Von @Pilzikus

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Teil 1

Barfuß und für den leise fallenden Schnee, der in diesem Teil Himmelsrands fast ununterbrochen die Erde bedeckte, nur unzureichend bekleidet, stand sie auf der kleinen Veranda ihres Elternhauses und schaute den anderen Kindern wehmütig beim Raufen auf dem kleinen Dorfplatz zu.
Sie wagte nicht, sich ihnen zu nähern. Schnell hatte sie gelernt, dass die anderen ihr Spiel einfach unterbrechen würden, wenn sie versuchte mitzuspielen.
Einer der Jungen blickte kurz zu ihr herüber und diese kleine Ablenkung reichte, um sie für einen kurzen Moment wieder die Kälte spüren zu lassen. Die Kleine seufzte und verstärkte den Gedanken an Wärme, ließ ihn durch ihren Körper fließen und die Kälte vertreiben. Der Schnee unter ihren nackten Füßen floss schmelzend über die Veranda. Kleine Dampfwölkchen stiegen auf und erregten die Aufmerksamkeit der anderen Kinder, die nun alle zu ihr herüber sahen. Deutlich hörte sie das leise getuschelte Wort, das auch ihr Vater schon mit solcher Verachtung benutzt hatte. Ein Wort, das unter den kämpferischen Nord eher als eine Beleidigung galt: Magier.
Sie wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel und ging zurück ins Haus. Wütend warf sie die Tür hinter sich zu und ein Schwall Schnee fiel vom Dach. Ein zorniger Gedanke formte sich in ihrem Kopf: Eines Tages würde sie es ihnen allen zeigen und eine mächtige Nord-Magierin werden.


„Halt das Schwert höher!“, donnerte ihr Vater und musterte ihre Haltung noch einmal kritisch, bevor er mit seinem Übungsschwert demonstrierte, wie sie in dieser Haltung eine bessere Chance hatte, seinen Schwerthieb abzufangen. Die pure Wucht seines Schlages ließ sie nach hinten taumeln.
„Mehr Gewicht auf das hintere Standbein“, kommentierte er trocken, doch sie spürte seine wachsende Unzufriedenheit.
„Nochmal!“, forderte er sie auf und sie nahm erneut einen festen Stand ein. Sie hasste die morgendliche Übungsstunde mit ihrem Vater, doch keine noch so hitzige Diskussion hatte ihn bisher davon abbringen können, aus ihr eine „echte“ Nordkriegerin zu machen, um später das Familienschwert Leifskaar zu führen.
Er konnte sich für sie auch nichts Schöneres vorstellen, als ihm später als Wache des Jarls nachzufolgen oder ein anderes ehrenhaftes Kriegerhandwerk auszuüben. Doch zurzeit sah sie von dieser „Ehre“ nur blaue Flecken und Blessuren, denn ihr Vater hielt sich mit seiner Kraft kaum zurück. „Deine Feinde werden dich später auch nicht verhätscheln“, pflegte er immer zu sagen, wenn sie sich wieder einmal eine schmerzende Stelle rieb oder einen neuen blauen Fleck entdeckte. Nach schier endlosen Minuten befand ihr Vater endlich, dass es für heute genug sei und er sonst nur zu spät zur Wachablösung kommen würde. Der Jarl wollte heute schon in aller Frühe die Handvoll kleiner Höfe besuchen, die zu dem kleinen Dörfchen gehörten und sich damit um das kommende Fest zu Shors Ehren kümmern.
Das Mädchen ließ kraftlos den zitternden Schwertarm sinken und nahm das Übungsschwert ihres Vaters entgegen, der ihrem zitternden Arm einen missbilligenden Blick zuwarf. „Vielleicht setzen wir abends noch eine zweite Trainingseinheit an, dir fehlt die nötige Kraft in den Armen“. Den entsetzten Blick seiner Tochter schien er nicht zu bemerken.
„Geh nach Hause und hilf deiner Mutter und den Anderen bei den Vorbereitungen für das Fest.“ Mit diesen Worten machte er sich auf den Weg zum Dienst.
Da die Vorbereitungen ihrer Mutter darin bestanden mit den anderen Fischern hinauszufahren und Fisch zu fangen, empfand sie noch keine große Lust, nach Hause zurück zu kehren. Die seltsamen Blicke und das Getuschel der anderen Fischer konnte sie nicht leiden und auch ihre Mutter empfand nicht gerade Stolz auf eine magiebegabte Tochter, auch wenn sie dies nie mit Worten ausdrückte. Sie verließ den kleinen Übungsplatz am Waldrand mit Blick auf das kleine Dörfchen und dem winzigen Kai in entgegengesetzter Richtung und schlenderte in den Wald zu ihrer Lieblingslichtung. Dort konnte sie einfach ihren Gedanken nachhängen und sich in Ruhe mit ihrer Gabe auseinandersetzen. Sie hatte schnell begriffen, dass die Magie sie all diesen Dummköpfen im Dorf überlegen machte und nichts Verachtenswertes war. Ihre Gedanken waren ihr Schwert, doch sie wusste auch, dass es hier kaum Möglichkeiten gab, ihr Schwert zu schärfen. Es gab sonst niemandem im Dorf, der Magie beherrschte, oder sie auch nur ansatzweise verstehen konnte und das frustrierte sie ungemein.
Sie übte eine Weile mit einem fliegenden Blatt, das sie um ihre Handfläche kreisen ließ, als sie plötzlich eine unheimliche Kälte verspürte. Der Wald schien mit einem Mal viel dunkler zu werden und auch das Vogelgezwitscher verstummte schlagartig. Sie fühlte sich aus der Dunkelheit beobachtet und eine eisige Hand griff nach ihrem Herzen. Misstrauisch blickte sie sich um, konnte aber nichts entdecken, sondern spürte nur wie das Gefühl einer fremden Präsenz und Bedrohung stetig wuchs. Die Dunkelheit war mittlerweile so undurchdringlich, dass sie die Bäume am Rand der Lichtung nicht mehr erkennen konnte.
Die Finsternis zog sich immer mehr um sie zusammen und die Beklemmung raubte ihr fast den Atem. Reflexartig und blitzschnell kam ihr der Gedanke an gleißend helles Sonnenlicht und sie bündelte all ihre Angst und aufgestauten Frust in diesen Gedanken. Fast glaubte sie, einen enttäuschten Aufschrei zu hören, dann war der Wald wieder normal. Die Vögel zwitscherten und der Wind rauschte leise durch die Baumkronen. Aus ihrem Gesicht war alle Farbe gewichen und der Schweiß glänzte feucht auf der Stirn. Sie fühlte sich ausgebrannt und unsagbar müde. Erschöpft sank sie zu Boden und schlief ein.


Die Präsenz zog sich enttäuscht in ihre Sphäre zurück. Dieses Kind war keine so leichte Beute wie angenommen. Mit unverhohlenem Interesse beobachtete sie den schlafenden Menschensprössling, dessen Körper von Licht umgeben pulsierte und einen weiteren Angriffsversuch erst einmal vergeblich machte. Ihr Interesse war geweckt, doch zuerst musste sie sich stärken. Sie hatte so entsetzlich lange schon nichts mehr gegessen.
Eines ihrer vielen Augen erblickte nicht weit entfernt die rot schimmernden Lebensenergien einer kleinen Ansammlung Menschen. Frohlockend wandte die Präsenz den gigantischen Rest ihres wabernden Leibes um und machte sich auf den Weg zu ihrem Festmahl.


Sie hatte das Gefühl, zu fallen. Dunkelheit und ein unnatürlich grünes Licht umgaben sie gleichzeitig und tauchten die Landschaft unter ihr in eine alptraumhafte Realität. Unsanft landete sie in einer Art Teich, dessen Wasser aus reinster Finsternis zu bestehen schien. Etwas streifte ihre Beine und sie schwamm eilig ans nahe gelegene Ufer. Sie lief durch grün-schwarze Ödnis, seltsam verzerrte Schreie drangen an ihr Ohr und ließen sie schaudern. Sie begann zu laufen, einen Ausweg zu suchen, doch nichts veränderte sich an ihrer Umgebung. Kurz blickte sie zum Himmel und sah, wie hunderte dunkler Augen wie Sterne auf sie herabblickten. Ein gewaltiger Tentakel schoss aus einem der schwarzen Teiche und kam direkt auf sie zu. Das Mädchen schrie.

„Ganz ruhig, Kleine.“ Langsam erwachte sie aus dem Alptraum und blickte benommen in das bärtige Gesicht eines fremden Nord. „Du hast schlecht geträumt“, erklärte er freundlich, doch sie rutschte ängstlich von ihm weg, bereute aber sofort die Bewegung, die ihr stechende Kopfschmerzen einbrachte. Er musterte sie mit einem seltsamen Blick, der direkt in sie hineinzusehen schien und reichte ihr danach einen Trinkschlauch. Sein Blick hatte etwas Beruhigendes und sie nahm einen Schluck. Sofort spürte sie, wie ihre Kräfte zurückkehrten, ihre Augen weiteten sich ungläubig. Von so einer Wundermedizin hatte sie noch nie gehört.
„Genau das richtige für kleine Magier, die mehr Energie verbraucht haben als gut für sie ist“, kommentierte er lächelnd und verstaute den Schlauch wieder sorgfältig unter seinem Umhang. Das Mädchen brauchte einen Moment, um seine Worte richtig zu erfassen. „Wer seid Ihr?“, fragte sie jetzt, neugierig geworden. Der Mann erhob sich, strich seinen Umhang zurecht und deute eine Verbeugung an.
„Leif Boddason, weitgereister Skalde aus Winterfeste. Auf Einladung des Jarls von Thorwig extra zu den Festlichkeiten angereist.“ Sein Blick wurde plötzlich ernst. „Oder zur Totenfeier.“ Bevor er seine letzten Worte ausführlicher erklären konnte, hörte das Mädchen die vertraute Stimme ihrer Mutter in ungewohnter Verzweiflung und Sorge rufen.
„Füüüüchschen!…“ Entfernt drang der selten benutzte Kosename an ihr Ohr, den sie bereits als kleines Kind erhalten hatte, weil sie einmal versehentlich in einen Fuchsbau gefallen war. Als man sie schließlich gefunden hatte, lag sie eingekuschelt und seelenruhig schlafend zwischen zwei Fuchsjungen. Das Rufen kam näher und eine Gruppe Dörfler, in denen sie die heimgekehrten Fischer erkannte, trat auf die Lichtung. Jeder Einzelne war bewaffnet und aufs Höchste angespannt. „Bei Ysgramors Fünfhundert, du lebst!“, stieß ihre Mutter erleichtert aus und schloss ihre verwunderte Tochter in die Arme. Immer wieder wurde sie gedrückt, als hätte ihre Mutter Angst, sie jemals wieder los zu lassen. „Wir sollten wieder zurück, Ynga“, meinte schließlich einer der anderen Fischer und Füchschen war erleichtert, als ihre Mutter wieder von ihr abließ. „Es wird schon dunkel und der Jarl möchte heute niemanden nach Einbruch der Dunkelheit draußen wissen bis klar ist, was hier passiert ist.“
Nachdem man sich vergewissert hatte, dass auch von dem Fremden keine Gefahr ausging, machte sich die kleine Gruppe auf den Weg zurück ins Dorf.

Das Erste, was ihr auffiel, war der unnatürliche Gestank, danach folgte der Schock eines grauenvollen Anblicks. Was von den unglücklichen Dörflern, die hier ihrem Schrecken begegnet waren, noch in einem Stück war, konnte man an einer Hand abzählen. Überall waren Kampfspuren, doch nicht genug Überreste, um auch nur auf die Hälfte der Sechzig vermissten Nord zu kommen. Die auffälligste Spur führte scheinbar aus dem Nichts zum Dorfplatz, als hätte sich etwas Gewaltiges über die Erde geschoben. Doch das Erschreckendste für das Mädchen war das unnatürliche schwarz-grüne Licht, das nebelartig in der Luft hing und für sie gut sichtbar die Spur der Kreatur nachzeichnete. Keiner der anderen schien davon etwas zu bemerken. „Du siehst es auch, nicht wahr?“ Der Barde war lautlos neben sie getreten. Das Mädchen konnte nur schwach nicken. „Interessant“, murmelte er in seinen Bart. Bevor Sie ihn fragen konnte, was er meinte, näherte sich der Jarl, begleitet von ihrem Vater. Bei ihrem Anblick sah sie auch ihm ungewohnte Erleichterung an. Es gab kaum eine Familie, die so viel Glück hatte, wie ihre und nicht mindestens einen Verlust beklagen musste.
„Leif!“ begrüßte der Jarl den Skalden mit einer freundschaftlichen Umarmung, die etwas zu fest war und seine eigene Trauer verdecken sollte. Das Mädchen wusste, dass sein Sohn ihn zu den Höfen begleitet hatte, aber seine Frau ebenfalls im Dorf gewesen sein musste.
„Komm, wir haben einiges zu besprechen, alter Freund.“ Der Jarl schob den Skalden in Richtung seines Heims. „In der Tat“, murmelte dieser und warf dem Mädchen noch einen undeutbaren Blick zu. Sie hatte das unbestimmte Gefühl, dass es bei diesem Gespräch auch um sie gehen würde.

Teil 2

„Bist du sicher, dass dies der richtige Weg zurück ist?“ Der Junge hielt seine rechte Handfläche vor die Augen und schrie gegen den stärker werdenden Schneesturm an. Der schmächtigere Junge, rechts neben ihm, antwortete nicht und kämpfte sich mit sichtlicher Mühe durch den knietiefen Schnee, wobei er sein Schwert als Stütze verwendete.
„Selbst wenn es der richtige Weg wäre… wir schaffen es niemals rechtzeitig zurück ins Dorf!“ Die gebrüllte Antwort kam von dem dritten Mitglied ihrer kleinen Gruppe. Er hatte einen Bogen geschultert und hielt seine Fellmütze mit einer Hand am Kopf fest, während er sich ebenfalls vorwärts kämpfte.
Der Wind schnitt zunehmend kälter in ihre ungeschützten Gesichter und trieb ihnen sofort die Tränen in die Augen. Das Schneegestöber ließ sie mittlerweile keine zwei Schritt mehr weit sehen.
Selbst für die wechselhaften und kalten Sommer Himmelsrands war dieser plötzliche Schneesturm ungewöhnlich heftig und hatte die drei Jungen auf ihrem Ausflug völlig unvorbereitet überrascht.
Der Anführer fluchte innerlich. Hätten seine Freunde nicht darauf bestanden, sich bis zu den alten Ruinen vorzuwagen, wären sie in spätestens zwei Stunden zu Hause gewesen. Hinzu kam das hier niemand nach ihnen suchen würde, da sie behauptet hatten, in der anderen Himmelsrichtung auf die Jagd gehen zu wollen. Die Ruinen, zu denen sie in Wahrheit wollten, waren verbotenes Gebiet und man hätte sie sonst niemals dorthin gehen lassen. Er konnte sich die wütende Schimpftirade seiner Mutter, gespickt mit ihren beliebtesten Worten zu Vernunft und Verantwortungsgefühl, bereits gut vorstellen. Er versuchte also, die Situation vernünftig zu betrachten und kam zu einem Entschluss, der seiner Mutter wohl noch weniger gefallen hätte, aber ihnen womöglich das Leben retten konnte.
„Wir müssen dringend einen Unterschlupf finden…“ Eine starke Schneewehe unterbrach ihn kurz. „Die Ruinen sind nicht mehr weit… wir hatten in dieser Richtung schon die ersten Steintürme gesehen.“ Der Junge deutete in die entsprechende Richtung und wartete nicht auf eine Antwort, sondern kämpfte sich demonstrativ dorthin vor. Seine Freunde folgten ihm ohne zu widersprechen.


Der Skalde wärmte seine Hände an dem großen Feuer in der Mitte der Halle und ließ sich von seinem Freund einen Becher Met reichen, während sie auf die restlichen Hauptleute warteten. Es galt noch, die heutigen Ereignisse und die nötigen Vorbereitungen für die Totenfeier zu besprechen.
Er hätte es vorgezogen, erst einmal alleine mit seinem Freund zu reden, doch dieser schien nicht geneigt, seine Wachen fortzuschicken. Vermutlich befürchtete er von seiner Trauer übermannt zu werden, sobald sie unter sich waren und das konnte er sich momentan nicht erlauben. Der Skalde lächelte mitfühlend. Der Jarl hatte es schon immer verstanden seine eigenen Bedürfnisse hinter seine Pflichten zu stellen und musste in dieser Krise für alle Stärke zeigen.
Leif nippte an seinem Met und setzte sich auf eine der langen Holzbänke, die zu beiden Seiten des Feuers aufgestellt waren. Ihm gegenüber saß der neunzehnjährige Sohn seines Freundes und starrte mit grimmigem Blick in die Flammen, während sein Vater ihm tröstend eine Hand auf die Schulter legte.
Sie schwiegen einander an, bis schließlich die Hauptleute eintrafen und der Herr von Thorwig auf dem erhöhten Stuhl am Kopf des Feuers Platz nahm. Seine zwei stämmigen Wachen stellten sich zu beiden Seiten von ihm auf. Wäre der Skalde nicht so viele Jahre fort gewesen, hätte er sich vielleicht an ihre Namen erinnert oder an die zwei anderen Nord, die nun die Halle betraten, doch auch sie waren ihm fremd geworden. Er musterte die Neuankömmlinge.
Die Hauptleute bestanden aus einer kräftigen Kriegerin mit einer Narbe am Kopf, die erahnen ließ, wie nahe sie dem Tod bereits einmal gewesen sein musste und einem weniger kriegerisch und älter aussehenden Mann, den der Skalde für den Sprecher der Fischer hielt.
Den Huscarl, den die Jarl von Winterfeste ihrem einzigen Sohn und Erben für sein Herrschaftsgebiet bereits vor Jahrzehnten zur Seite gestellt hatte, suchte der Skalde allerdings vergebens. Auch er hatte diesen Tag anscheinend nicht überlebt und Leif befürchtete, dass es ihm zufiel die traurige Kunde bei seiner Rückkehr nach Winterfeste überbringen zu müssen.
Der Jarl räusperte sich und es wurde augenblicklich ruhig. Nur das leise Knistern der Flammen war noch zu hören und untermalte die Stille zusätzlich. Erwartungsvolle Blicke richteten sich auf den Anführer, der nun nacheinander seine Vertrauten aufforderte, die Ereignisse aus ihrer Sicht zu schildern.
Der Bericht des Fischers war dem Skalden bekannt. Er war nicht im Dorf gewesen und konnte nur von dem Entsetzen seiner Leute berichten, als sie wieder heimgekehrt waren und von Ihrer verzweifelten Suche nach Überlebenden des Angriffs.
Doch die Kriegerin hatte einen Blick auf das Wesen werfen können und er zückte ein kleines Notizbuch, um nach ihrer Schilderung eine Zeichnung der Kreatur anzufertigen.
Das Ergebnis sah aus wie ein Stück Pudding mit massenhaft Augen und er hätte wohl, wie die meisten, an ihrem Verstand gezweifelt, wenn sich eine ähnliche Zeichnung nicht bereits weiter vorne in seinem Buch befunden hätte. Er warf dem Jarl einen vielsagenden Blick zu und steckte das Notizbuch wieder in die Tasche seines Fellmantels.
Auf die Frage der Kriegerin, ob sie sich nicht sofort für eine Rückkehr des Wesens wappnen sollten, übergab der Jarl das Wort an seinen Freund, was die Anwesenden sehr zu überraschen schien. Der Skalde lächelte nachsichtig. Nur die wenigsten wussten, dass er mehr war, als ein reisender Sänger und Geschichtenerzähler. Und das war ihm ganz recht.
„Das Wesen hat sich genährt und hat fürs Erste keinen Grund mehr, erneut zuzuschlagen. Wir können also erst mal die Toten in Würde bestatten und danach unsere nächsten Schritte planen.“ Die Kriegerin wirkte nicht sehr überzeugt, doch der Jarl griff bereits das Stichwort auf und so drehte sich die weitere Besprechung um die morgige Aufgabenverteilung für die Bestattung.
Der große Platz musste gereinigt und anschließend die Überreste außerhalb des Dorfes auf dem Totenacker mit einer Zeremonie beigesetzt werden. Der Skalde würde hierfür die Seelen der Toten mit seinem Lied auf den Pfad nach Sovngarde führen, wo sie in der Halle der Tapferkeit vor Shor treten konnten.

Das große Feuer war bereits ein gutes Stück heruntergebrannt, als der Jarl die Versammlung schließlich auflöste und auch seine Wachen nach Hause schickte, damit sie selber in Ruhe trauern und sich um ihre Familien kümmern konnten. Plötzlich unendlich müde, ließ sich der Jarl mit einem Becher Met neben seinem Freund auf der Bank nieder. Er fuhr sich mit der Hand über die Augen und schüttelte den Kopf.
„Wir wussten, dass so etwas eines Tages passieren würde und konnten uns trotzdem nicht darauf vorbereiten.“ Er ballte die freie Hand zur Faust und starrte wütend in die Flamme.
„Verflucht sei sein Name!“ Er schüttete den restlichen Met ins Feuer und ließ die Flamme damit kurz aufleben.
Sein Freund konnte seine Frustration gut nachvollziehen. Er selbst hatte viele Jahre seines Lebens damit zugebracht, nach dem nötigen Wissen zu suchen, das ihnen helfen konnte, nur um am Ende fest zu stellen, dass er bestenfalls an der Oberfläche eines Sees geschwommen war. Eines Sees, der zu tief und voller übermächtiger Kreaturen und Gefahren ist, um jemals bis an den Grund vordringen zu können oder unbeschadet das andere Ufer zu erreichen.
Er überspielte seinen Schauder, indem er in seinen abgelegten Fellmantel griff und sein Notizbuch herauszog.
„Ich konnte bei meinen Nachforschungen endlich etwas über seine Heimstatt und den Schrein herausfinden, schau mal hier.“ Er hielt dem Jarl das kleine Büchlein hin und schlug die Zeichnung einer Ruine mit einigen sehr alten Runen auf.
„Ystgrav“, übersetzte er und ließ seinem Freund Zeit, den Namen zu begreifen und die Zeichnung genauer zu studieren.


„Yyy..stgrav“, versuchte sich der schmächtige Junge an einer Übersetzung der alten Runen, welche die Wände zu beiden Seiten ihres Unterschlupfs zierten. Er hielt ein Magierlicht in der linken Hand und versuchte angestrengt, noch mehr zu entziffern. Doch der Verwitterungsgrad des Steins, sowie der Wurzelbefall, der fast überall durch den Stein brach, machten die restliche Übersetzung schwierig und ließen ihn das Alter der Ruine auf mehrere Jahrhunderte schätzen.
Sie hatten das Eingangsportal hinter sich gelassen und waren am Ende einer langen, brüchigen Steintreppe bereits auf die ersten Seitenwände mit altnordischen Runen gestoßen.
Vor ihnen erstreckte sich ein langer, dunkler Gang, der gleichzeitig Unbehagen und Neugierde weckte.
„Wenn das der Name dieses Ortes sein soll, habe ich noch nie davon gehört“, gab der Junge mit dem Bogen zu und wandte sich an seinen magiebegabten Freund.
„Und was sagt unser angehender Kynepriester dazu?“ Der angesprochene Junge zuckte mit den Schultern und ignorierte den Sarkasmus, den sein Freund stets zeigte, wenn er selbst keine Antworten hatte und sich bei anderen Rat suchen musste.
„Klingt wie der Name eines alten Grabes, das steckt schon im Namen, Tjalf“, antwortete er etwas bissiger als gewollt und versuchte damit, seine Besorgnis zu verbergen. Alte Gräber zu betreten und die Toten darin zu stören, ging in keiner der vielen Nordlegenden besonders gut aus.
„Wenn das ein Grab ist, wieso kennt dann niemand den Namen?“, warf Tjalf beleidigt ein und strich mit der Hand über die Reste eines Reliefs, das einen Walfisch zeigte. „Solche großen Gräber baut man schließlich nur für bekannte Männer und Frauen!“ Der Blick ihres Anführers nahm einen begeisterten Ausdruck an.
„Vielleicht sind wir seit Jahrhunderten die ersten, die dieses Grab betreten haben. Ich finde, wir sollten es uns wenigstens ansehen und herausfinden, für wen es errichtet wurde. Wir müssen vermutlich noch Stunden abwarten bis der Sturm vorbei ist und wir wieder raus können. Ich möchte nicht so lange hier herumsitzen.“
Tjalf schien ebenfalls begeistert. „Wer weiß, vielleicht finden wir eine der uralten legendären Waffen, die mit ihrem Besitzer bestattet wurden. Solche, über welche die Skalden immer singen.“
Der Priesterlehrling wollte nicht feige wirken, doch langsam schien ihm die Idee, überhaupt hierher zu kommen, nicht mehr allzu gut gewesen zu sein.
„Vielleicht hat das Grab auch einfach bisher niemand mehr lebend verlassen, um davon zu berichten. Wenn es noch nach den alten Riten errichtet wurde, könnte es hier untote Wächter geben… Draugr“, mahnte er leise, doch seine Freunde waren für seine Warnung nicht mehr empfänglich. Sie bastelten sich gerade aus einer festen Wurzel und etwas Moos eine behelfsmäßige Fackel und zündeten diese mit ihren Feuersteinen an, ehe sie dem dunklen Gang folgten.
Er richtete ein kurzes Gebet an Kyne, ehe er zu ihnen aufschloss. Er konnte seine Freunde ja schlecht hier unten alleine lassen.


Als der Jarl ihm schließlich sein Notizbuch zurück gab, erschien ein Ausdruck des Verstehens auf seinem Gesicht.
„Die Ahnen waren weise, diesen Ort zu versiegeln und aus allen Liedern und Aufzeichnungen zu verbannen.“ Sein Freund steckte das kleine Buch wieder in seinen Mantel und zog ihn über. „Ich denke, ihnen ist einfach auch nichts Besseres eingefallen. Die Art von Magie, die nötig wäre um ihn zu bekämpfen, wurde in diesen Landen immer abgelehnt und nicht gelehrt.“
Dem Skalden kam ein schauerlicher Gedanke. „Vielleicht war das auch sein Plan und er hatte mehr Einfluss auf unser Volk und unsere Kultur, als wir es uns vorzustellen wagen. Wer weiß, was noch alles aus unserer Geschichte getilgt wurde.“
Er erhob sich. „Aber wir können vielleicht jetzt etwas tun. Dafür werde ich allerdings Hilfe benötigen und es wäre gut zu wissen, dass hier noch jemand in der Lage ist, das Dorf mit Magie zu beschützen, sollte mir etwas zustoßen.“ Er machte eine kurze, nachdenkliche Pause und erzählte seinem Freund anschließend von seiner Begegnung mit dem magiebegabten Mädchen und was er mittels eines Hellsichtzaubers sehen konnte, als er sie schlafend und in Magie gehüllt fand. „Sie hatte gerade einen Teil seiner Präsenz vertrieben ohne überhaupt zu wissen, was sie tat. Vielleicht ist sie Kynes Antwort auf unsere Gebete, Jolf.“ Er verwendete den freundschaftlichen Spitznamen des Jarls, wie er es früher immer zu tun pflegte, um ihn von etwas zu überzeugen. Er wusste, wie schwer das Thema Magie, vor allem bei den ländlicheren Nord, anzusprechen war und würde alle Unterstützung seines Freundes dafür benötigen. Zum Glück war der Jarl größtenteils in Winterfeste und an der Seite eines magiebegabten Freundes groß geworden und stand der Magie offener gegenüber, auch wenn er nicht immer alles verstand, was damit zusammenhing.
Der Jarl nickte und wirkte fast erleichtert. „Grimvars und Yngas Tochter. Ich habe mir schon seit Jahren Gedanken darüber gemacht, was ich tun soll. Mir ist natürlich nicht entgangen, dass wir ein solches Kind hier haben, auch wenn ich nicht weiß, wie das bei ihrer Familienlinie möglich ist… aber ich weiß, wie gefährlich jemand werden kann, dem niemand zeigt, wie man seine Magie richtig nutzt. Ich hätte sie vermutlich eh bald wegschicken müssen. Allerdings wäre ihr Vater von der Idee wenig angetan, sie ist sein einziges Kind und soll sich als Kriegerin einen Namen machen. Ich mische mich normalerweise auch nicht in familiäre Angelegenheiten ein, aber hier hätte ich sonst eine Ausnahme machen müssen.“ Er machte eine hilflose Geste mit der Hand.
„Ich wäre daher froh, wenn du ihre Ausbildung übernimmst, allerdings müsstest du hierfür noch ihren Vater überzeugen.“
Der Skalde wusste genau, was seinem Freund vorschwebte und er lächelte auf freundliche Art verschwörerisch.
„Es wird ihm gegenüber nicht die Rede sein von einer magischen Ausbildung. Ich lasse seiner Familie eine Ehre zuteil werden, die er unmöglich ablehnen kann.“
Seine Hand glitt unwillkürlich in die Tasche seines Mantels und berührte das kleine Buch. Er war froh, dass sich manche Probleme auf solch einfache Art und Weise lösen ließen.


Je tiefer sie in das alte Grab vordrangen, desto unbehaglicher wurde es dem jungen Priesterlehrling. Zeitweise schien es ihm, als würde sogar sein Magierlicht schwächer und könnte die allumfassende Dunkelheit nicht mehr richtig durchdringen. Dafür bildete er sich ein, gelegentlich zwei leuchtende blaue Punkte in den gefüllten Grabnischen zu ihren Seiten zu erkennen, welche sie direkt anzustarren schienen.
Er war geradezu erleichtert, als sie in eine runde Grabkammer kamen, von der kein weiterer Gang abzweigte. An den Wänden befanden sich überall dreistöckige Grabnischen, welche größtenteils leer waren. Genau wie der große Sarg in der Mitte des Raumes. Tjalf hatte das Podest erklommen und hielt seine Fackel enttäuscht darüber.
„Was für ein Reinfall.“ Er trat mit der Stiefelspitze gegen die Seite des steinernen Sarges und staunte nicht schlecht, als ein eckiger Stein klickend nachgab und in einer Vertiefung versank.
Schnell hatte er zwei weitere dieser Steine am Podest gefunden und gedrückt, noch bevor seine Freunde Einwände erheben konnten. Mit einem schleppenden, reibenden Geräusch, das nur große Steinmassen verursachen konnten, die seit Jahrhunderten geruht hatten und sich jetzt gegen die Bewegung wehrten, glitt das Podest mit dem Sarg zur Seite. Den Jungen offenbarte sich eine verborgene Treppe, die in ungeahnte Tiefen führte. Der junge Kynepriester fluchte innerlich und folgte seinen begeisterten Freunden weiter in die verborgenen Tiefen des unbekannten Grabes.

Teil 3

Schon in aller Frühe war das gesamte Dorf auf den Beinen. Vermutlich hatte in dieser Nacht ohnehin niemand wirklich ein Auge zugetan. Eifrig gingen alle den Aufgaben nach, die ihr Anführer an sie verteilt hatte und waren froh, etwas zu tun zu haben, um sich von ihren schwermütigen Gedanken abzulenken. Der Skalde packte ebenfalls tatkräftig mit an und hielt dabei Ausschau nach dem Mädchen.
Innerhalb kürzester Zeit war der Dorfplatz wieder hergerichtet und nichts deutete dort mehr auf den Angriff der Kreatur hin. Er erblickte die Kleine, wie sie mit den anderen Kindern den restlichen Sandboden glatt fegte, wobei ihm nicht entging, dass die anderen Kinder einen gewissen Abstand zu ihr hielten oder miteinander tuschelten. Ihrem Gesicht sah er an, wie sehr sie ihre Ablehnung traf und wunderte sich nicht darüber, dass sie sich sofort davonstahl, als die Aufgabe beendet war.
Er hatte so eine Ahnung, wohin sie sich zurückziehen würde und suchte die Lichtung ihrer ersten Begegnung auf. Leif hatte sich vorgenommen, zuerst einmal ungestört mit ihr über ihre Magie zu sprechen und das erforderte mehr Feingefühl und Offenheit, als es in der Gegenwart anderer, plumper Nord-Krieger möglich war.
Der Skalde fand sie, wie erwartet, dort und beobachtete zunächst aus der Ferne, wie sie mithilfe ihrer Magie den Wind dazu brachte, ein Blatt um ihre Hand fliegen zu lassen. Eine Fingerübung, die aber trotzdem viel Konzentration erforderte.
Kurz erinnerte er sich an seine ersten Magie-Übungen und lächelte bei dem Gedanken daran, wie sein erstaunter Lehrmeister entdeckte, dass er ebenfalls Kynes wildes Element beherrschen konnte. Es hatte seinen Lehrer während ihres Kampftrainings buchstäblich von den Füßen gefegt.
Er fragte sich kurz, ob sein Leben anders verlaufen wäre, wenn sein Lehrer es nicht als Kynes Gabe angesehen und sich beim Hofmagier der Jarl Unterstützung für seine Ausbildung geholt hätte. Diese ungewöhnliche Doppelausbildung hatte ihm schon in vielen Situationen geholfen. Der Skalde schüttelte leicht wehmütig den Kopf, als er an seine Lehrzeit dachte.

Er betrat die Lichtung und ließ ein wenig von seiner Magie frei um sich bemerkbar zu machen. Das Kind reagierte tatsächlich verwirrt und blickte sofort in seine Richtung. Der Skalde fand es bemerkenswert, wie intuitiv sie seine Magie spürte. Leider unterbrach er damit ihre Konzentration und das Blatt fiel zu Boden.
„Ich wollte dich nicht stören“, entschuldigte er sich und hob das Blatt mit seiner eigenen Magie wieder hoch. Sie starrte ihn so verblüfft an, dass er am liebsten gelacht hätte.
„Ich schätze, du triffst hier nicht oft auf andere Magier“, bemerkte er wissend und sie schüttelte den Kopf.
„Dann pass mal gut auf…“
Er machte eine verschwörerische Geste, indem er den Zeigefinger an die Lippen legte. Danach streckte er die Hände nach vorne und begann sich zu konzentrieren.
Er wollte eigentlich nicht angeben, aber er hatte sich schon lange keinem mehr auf die Art offenbart und es fühlte sich großartig an, wie erwartungsvoll ihn das Kind ansah.
Der Wind frischte schlagartig auf und fegte mit gewaltiger Kraft durch die Baumkronen. Die Wolken über ihnen schoben sich dichter zusammen und wurden augenblicklich dunkler. Blitze zuckten erkennbar darin auf.
Mächtige Äste brachen und wurden spielend leicht von der Gewalt des Windes mitgerissen. Am Boden liegende Steine und Sand schlossen sich ebenfalls an und verdunkelten die Lichtung. Die beiden Nord befanden sich innerhalb kürzester Zeit im Zentrum eines mächtigen Wirbelsturms.
„Bei Shor!“, entfuhr es dem Mädchen und sie verfolgte staunend wie er den gesamten Wald um sie herum im Sturm erzittern ließ.
„Entschuldige, ich bin wohl etwas über das Ziel hinausgeschossen“, bemerkte er lachend und beendete den Sturm. Die mitgerissenen Äste und Steine fielen wieder zu Boden und blieben in einem Kreis um sie herum liegen. Das Mädchen sah ihn ehrfürchtig an. „Kann ich das auch?“, fragte sie begeistert und er hatte sie jetzt an dem entscheidenden Punkt.
„Wenn du das möchtest und ein paar Jahre hartes Training nicht scheust.“ Sie nickte eifrig. „Und wenn du mir hilfst, deinen Vater davon zu überzeugen, dass ich dich ausbilden darf.“
Jetzt verzog sie enttäuscht den Mund. „Das würde er nie erlauben…“
„Was wäre, wenn es eine Möglichkeit gäbe, bei der er sogar noch erfreut zustimmen würde?“ Die Kleine schaute skeptisch, doch als er begann, ihr von seinem Plan zu erzählen, hellte sich ihr Gesicht zunehmend auf.
„Dann lass uns langsam zurück gehen. Die Totenfeier wird bald beginnen und was für eine Feier wäre es, ohne Gesang?“
Er machte eine einladende Geste in Richtung des Dorfes und das Mädchen eilte schnell an ihm vorbei. Sie konnte es nicht abwarten, danach vielleicht schon mit dem Training zu beginnen. Der Skalde folgte ihr lächelnd.


Dieser geheime Teil des Grabes war anders. Das erkannten die Jungen bereits nach den ersten Stufen. Die Wände bestanden nicht mehr aus grob behauenem Stein im typischen Stil der Nord, sondern waren mit viel Mühe geglättet worden und der Schein des Magierlichts und ihrer Fackel spiegelte sich darin wieder. Die Treppe wurde so breit, dass problemlos zwei Wagengespanne nebeneinander Platz gefunden hätten und schien sich endlos in die Dunkelheit zu erstrecken.
„Wenn der Abstieg so weitergeht sind wir alt und grau bis wir unten ankommen“, witzelte Tjalf und das Knurren seines Magens verriet ihnen, dass die Zeit für das Mittagessen schon längst vorbei sein musste. Ihr Anführer verdrehte die Augen. An dem Hungergefühl ihres Freundes konnte man die Zeit genauso zuverlässig ablesen wie am Stand der Gestirne.
Als sie das Ende erreicht hatten, erstreckte sich vor ihnen ein weiterer langer Gang, der genauso breit war, wie die Treppe. Der Boden bestand aus einem ungewöhnlich schwarzen Stein, der so perfekt geglättet war, dass man sich ebenfalls darin spiegeln konnte. Es gab auch keine Anzeichen von Verfall, wie sie nach so vielen Jahrhunderten üblich waren. Zu beiden Seiten des Gangs verlief auf Hüfthöhe eine lange schmale Rinne, die mit einer zähen, dunkelgrünen Flüssigkeit gefüllt war.
Der Priesterlehrling rieb etwas davon prüfend zwischen Daumen und Zeigefinger, bevor er kurz daran roch und die Nase verzog.
„Das könnte altes Walöl oder Ähnliches sein“, vermutete er, wobei ihn allerdings die Farbe störte.
„Vielleicht brennt es ja noch…“ Tjalf trat mit seiner Fackel näher heran und hielt sie darüber, noch bevor sie ihn zurückhalten konnten. Eine große Flamme schlug aus der Rinne und verteilte sich blitzartig den Gang entlang, ehe sie sich etwas beruhigte und kleiner wurde. Nach einer erstaunlich langen Zeit kam das Feuer auf der anderen Seite an und zeugte von dem weiten Verlauf der unterirdischen Anlage.
„Ganz toll, jetzt weiß auch der letzte untote Wächter, dass wir hier sind.“ Der Junge ließ sein Magierlicht erlöschen und warf seinem Freund einen bösen Blick zu. Manchmal war er einfach unerträglich impulsiv und dachte nicht nach. Das würde irgendwann noch einmal sein Verderben sein und der junge Magier hoffte, dass er an diesem Tag weit weg von ihm wäre.
„Immerhin haben wir jetzt besseres Licht, unsere Fackel hätte eh nicht mehr lange gehalten“, beschwichtigte ihr Anführer, bevor die beiden weiter aneinander geraten konnten. Er sah sich staunend die kunstvollen Darstellungen an, welche die kompletten Seitenwände zierten.
Es wirkte wie eine uralte Schrift, deren durchgehende Linien gleichzeitig auch Bilder formen konnten.
Sie bewegten sich langsam weiter durch den Gang, wobei sie die kunstvollen Schriftbilder eingehend betrachteten. Es waren keine Darstellungen von Schlachten oder Kämpfen, wie die Nord es gewohnt waren, sondern Abbildungen von Kreaturen, die schon lange kein Auge mehr erblickt hatte und eine unbekannte Geschichte erzählten. Die Wesen wirkten wie eine groteske Mischung aus Käfer und Tintenfisch. Sie hatten ein paar längerer Arme oben, sowie ein zweites, kürzeres Paar unten und bewegten sich auf einer Anzahl von Tentakeln, anstelle von Beinen. Ihr Kopf erinnerte ebenfalls an einen Tintenfisch und ihre Körpermitte wurde auf abstrakte Weise mit etwas dargestellt, das vielleicht ein großer Mund sein konnte. Die drei Abenteurer überkam ein Schauder, doch sie konnten ihre Blicke nicht von der faszinierenden Darstellung abwenden. Weit am Ende dieser Geschichte schien es den drei Jungen, als würden vermehrt rituelle Handlungen gezeigt. Ein Schriftbild erregte dabei ihr besonderes Interesse.

Eine Gruppe der Kreaturen kniete vor einem großen Altar, der mit vielen geschwungenen Tentakeln dargestellt wurde und legte Gaben darauf, die an Steintafeln oder Bücher erinnerten. Eine große Anzahl wohlwollender Augen schien auf sie hinabzublicken.
In der letzten Darstellung, die passenderweise vor einem eindrucksvollen Eingang zum nächsten Raum endete, durchquerten diese Kreaturen ein Portal. Hinter diesem Portal wurden die Ersten von ihnen abgebildet, wie sie sich nun in einer neuen Landschaft befanden, in der lauter Tentakel aus dem Boden wuchsen. Über ihnen befanden sich wieder zahlreiche Augen, welche auf sie herabblickten.

„Unglaublich“, flüsterte der angehende Kynepriester schaurig bewegt und strich mit der Hand über die Abbildung. „Es sieht fast so aus, als hätte dieses seltsame Volk unsere Welt durch das Portal verlassen.“ Besser konnte er es nicht beschreiben und wusste auch nicht genau zu sagen, wohin sie gegangen waren oder wen sie so inbrünstig angebetet hatten.
„So ein Glück“, kommentierte ihr Anführer. „Ich habe keine große Lust einem von diesen Viechern hier unten zu begegnen.“ Er zog trotzdem vorsichtshalber sein Schwert und trat durch den großen Durchgang.
Seine Freunde taten es ihm gleich und folgten kurz darauf vorsichtig in den nächsten Raum.


Die Kreatur zog sich zufrieden und gesättigt in ihr Heim zurück. Sie wollte nur noch ruhen. Ruhen, bis der Hunger erneut übermächtig wurde. Vielleicht würde sie sich dann diesen kleinen Menschensprössling holen. Die Energie würde sicherlich für viele Jahre reichen.
Mit einem Gefühl der Vorfreude schob das Wesen sich weiter vorwärts.
Es glitt problemlos durch die Gänge des alten Nord-Grabes und passte ihre Form dabei stets dem vorhandenen Platz an. An einer besonders engen Stelle, ließ sie sich einfach langsam und stückweise durch die Steine sickern und formte sich dahinter wieder neu zusammen.
In der letzten runden Grabkammer verharrte sie kurz. Alle Augen richteten sich auf den offenen Treppeneingang in der Mitte des Raumes, als schien sie etwas überlegen zu müssen. Dann glitt sie durch die Öffnung, weiter hinunter zu ihrer Ruhestätte.

Teil 4

Am Nachmittag hatte sich das Dorf auf dem Totenacker eingefunden und lauschte ergriffen dem Gesang des Skalden. Er verstand es meisterlich, die Toten zu ehren und die Hinterbliebenen gleichzeitig durch ihre Trauer zu führen.
Dazu beschwor er mit kraftvoller Stimme die Bilder einer alten Schlacht herauf und schenkte ihnen das Gefühl der Gemeinschaft, indem er Ysgramor in Atmora erneut seine fünfhundert Gefährten sammeln und nach Himmelsrand aufbrechen ließ. Die gerechte Rache am Verrat der Schneeelfen und der Beginn ihrer großartigen Kultur in der neuen Welt, erfüllte die Herzen seiner Zuhörer mit wohltuender Befriedigung.
Leif ließ die Namen der getöteten Dörfler einfließen, als wären sie bei dem Feldzug gefallen und bat an ihrer Stelle für sie um Einlass nach Sovngarde, wo der göttliche Shor sie in seiner Halle aufnehmen sollte.
Als sein Lied schließlich endete, schwieg die Menge bewegt und er sah zufrieden, wie von den hartgesottenen Nord verstohlen einige Tränen fortgewischt wurden. Die Dorfgemeinschaft erwartete nun, in Abwesenheit eines geweihten Priesters, zu dem letzten Teil der Zeremonie überzugehen, der aus einem Totenschmaus und ordentlichem Metkonsum in ihrer
großen Halle bestand.
Doch Leif hatte sich gegenüber dem Jarl bereit erklärt auch jenen Teil der Zeremonie zu übernehmen, für den ein Geweihter benötigt wurde. Die Menschen sollten wissen, dass ihre Götter sie in dieser schweren Zeit nicht alleine ließen und es würde ihm das Gespräch mit dem Vater des
magiebegabten Mädchens sehr erleichtern, wenn er sich als einer der hochgeachteten Krieger zu erkennen gab.
Entsprechend erstaunt waren alle, als er seinen weiten Fellmantel ablegte und seine prächtige, mit Pelz ergänzte Stahlrüstung samt Kynes Zeichen sichtbar wurde. Der Jarl überreichte ihm feierlich sein mitgebrachtes Schwert und als er es aus der Scheide zog, erkannte die staunende Menge, dass es komplett aus heiligem Stalhrim gefertigt war. Kynes und auch Shors Symbole zierten die prächtige Waffe, welche er trotz ihres Gewichts mühelos in die Höhe hielt.
Wie er dort mit leuchtendem Schwert im Sonnenlicht stand, zweifelte keiner der Anwesenden daran, dass er für die Göttin sprach und seine unerwartete Anwesenheit ihre Anteilnahme ausdrückte.
Er hielt noch einmal Fürsprache für die Verstorbenen und sprach zum Schutz Kynes Segen über sie alle, wobei er ein wenig Magie verwendete um den Schnee hinter der Menge in einem großen Kreis aufzuwirbeln.
Während die Dörfler sich nun der Anwesenheit ihrer Göttin sicher waren, spürte er den wissenden Blick seiner zukünftigen Schülerin auf sich ruhen und konnte förmlich das leichte Schmunzeln in ihrem Gesicht sehen.


Die drei Jungen schritten mit gezogenen Waffen vorsichtig weiter voran.
Der neue Raum erstreckte sich so gewaltig in die Dunkelheit, dass sie trotz des durchgängigen Lichtkanals an den Wänden noch nicht bis zu seinem Ende sehen konnten.
Sie befanden sich jetzt vor einem kleinen Steg, der vom Eingang aus für drei Schritt über düster schimmerndes Wasser führte, welches den Raum wie ein Burggraben umschloss und ihn zu einer großen, steinernen Insel machte.
Gelegentlich hörten sie das Wasser plätschern, als würde sich etwas darin bewegen und wunderten sich, ob es wohl auch größere Fische darin gab, die hier unten überleben konnten. Dann betraten sie die gewaltige, unterirdische Steininsel.
Weitere Stege führten zu beiden Seiten von ihr ab und sie vermuteten, dort die Lebensbereiche der verschwundenen Wesen zu finden. Womöglich eine ganze verborgene Stadt.
Kunstvoll verzierte Säulen aus schwarzem Stein, die wie sich windende Tentakel geformt waren und bis zur Decke reichten, erzählten weitere Teile der Geschichte ihrer seltsamen Erbauer.
Um einige der verzierten Säulen waren geschickt weitere Tentakel geschwungen worden, die in dem schwachen Licht grün schimmerten und fast wie lebendig wirkten.
Tjalf trat zu seinem gelehrten Freund und sah ihm ungeduldig dabei zu, wie er versuchte aus den Säulen schlau zu werden.
„Du kannst das doch nicht wirklich lesen, oder?“, spottete er und überspielte damit seine Furcht vor diesem seltsamen Ort. Sein hungriger Magen meldete sich jetzt auch schon wesentlich eindringlicher und reizte ihn zusätzlich.
Bevor der Angesprochene etwas darauf erwidern konnte, rief ihr Anführer sie aufgeregt von der vordersten Ecke des Raumes aus zu sich.
„Seht euch das mal an!“
Neugierig liefen die beiden zu ihm herüber und sahen sofort, was er Erstaunliches gefunden hatte.
Aus dem richtigen Blickwinkel formten alle Säulen zusammen das Bild einer gewaltigen Kreatur. Als sie die Insel daraufhin weiter abgingen stellten sie sogar fest, dass es auch von mehreren verschiedenen Punkten aus funktionierte und dem Wesen aus jeder Himmelsrichtung eine
gemeinsame Form gab. Eine monströse Form mit Tentakeln und Augen.
„Wahnsinn“, staunte Tjalf schaudernd und jeder von ihnen fragte sich insgeheim, wie man eine so perfekte Illusion erschaffen konnte. Als hätten die Baumeister dieses Ortes über geheimes Wissen verfügt.
Im hinteren Teil der Insel fanden sie noch einen großen Altar, der nicht weniger eindrucksvolle Tentakel aufwies, wie die Halle, und zusätzlich mit mehreren, geschlossenen Augen verziert war.
Zu ihrer großen Verblüffung lagen darauf ein seltsam durchscheinendes, schwarzes Buch, ein kostbares Schwert und etwas zu Essen, das verführerisch duftete und wie für sie gemacht zu sein schien.
Tjalf konnte bei diesem Anblick nichts mehr halten. Er stürzte hungrig zu dem Essen und verschlang Brot, Fleisch und ein Stück Käse, ohne sich Gedanken zu machen, wieso es hier so einfach für ihn bereit lag und ignorierte die warnenden Rufe seiner Gefährten.
Der junge Priester ahnte großes Unheil auf sie zukommen und verfluchte seinen Freund wieder einmal für seine ungestüme Art. Und tatsächlich mussten sie nicht lange darauf warten.
Während Tjalf noch die letzten Bissen verschlang, begannen sich die riesigen, geschwungenen Tentakel, die sich um einige der Steinsäulen gewunden hatten, langsam zu bewegen.
Die drei Abenteurer erkannten entsetzt, dass sie überaus lebendig waren und direkt neben den rettenden Ausgängen aus dem Wassergraben wuchsen. Die Augen am Altar öffneten sich und starrten sie bedrohlich an.


Die Kleine ließ aufgeregt die Beine von der Bank auf der Veranda ihres Elternhauses hin und her baumeln. Das Gespräch zwischen ihren Eltern und dem Kynepriester dauerte für sie bereits eine gefühlte Ewigkeit und sie wäre vermutlich vor Neugier gestorben, wenn der Skalde ihr nicht bereits
vorher erzählt hätte, wie er ihren Vater überzeugen wollte, sie als Magieschülerin annehmen zu dürfen. Sie musste nur abwarten ohne ihn zu verraten.
Er hatte es gut verstanden, sich bei der Totenfeier in Szene zu setzen und sie schmunzelte erneut bei dem Gedanken daran, wie dumm die anderen ausgesehen hatten, weil sie die Magie in seinem kleinen Schneegestöber nicht hatten spüren können.
Als sie schließlich wieder ins Haus gerufen wurde, sah sie in den Augen ihres Vaters einen fast ehrfürchtigen Stolz, der sie ein wenig beschämte. Für ihn würde sie als Geweihte der Sturmgöttin eine noch größere und geachtetere Kriegerin werden, als er es sich je für sie erträumt hatte, denn die kämpferischen Nord verehrten die geweihten Krieger, von denen es hieß, niemand könne sie im Kampf bezwingen, über alle Maßen.
Das Mädchen wusste, dass der Skalde ihre erste Begegnung auf der Lichtung dafür ein wenig ausgeschmückt hatte und, weil die Göttin seinen Weg auf der Suche nach einem würdigen Schüler führte, ihr dort auf der Lichtung begegnet war.
Die Kleine hatte trainiert und der Göttin sei Dank, auf die Entfernung nichts von den schrecklichen Vorgängen im Dorf mitbekommen. Dass sie dazu noch ihre Übungsschwerter vom morgendlichen Training dabei hatte, wertete er als weiteres Zeichen und forderte sie zu einem Trainingskampf, der ihn beeindruckte und auch ihrem Vater damit das erhabene Gefühl gab, ein guter Kämpfer zu sein.
Mehr war anscheinend nicht nötig und ihre Eltern hatten keine Einwände ihre Ausbildung in die Hände dieses angesehenen Kriegers zu legen, der auch das Vertrauen des Jarls besaß.
Man lud den Skalden zum Abendessen ein, wie es Brauch war, und alle lauschten staunend seinen spannenden Kriegsgeschichten, welche das Mädchen sogar fast vergessen ließen, dass eigentlich ein mächtiger Magier vor ihr saß.
„Dann ist er wohl so eine Art Kampfmagier“, dachte sie kichernd und nippte wiederholt an dem ungewohnten Met, den man ihr zur Feier des Tages vorgesetzt hatte. Sie musste jetzt ja auch lernen, wie eine echte Nordkriegerin zu trinken.


In diesem furchtbaren Moment wagte keiner auszusprechen, wie gigantisch das dazugehörige Monster unter ihren Füßen wohl sein musste.
„Ich habe auf euch gewartet“, erscholl eine kraftvolle, düstere Stimme von überall her zugleich und wurde von den Echos der unterirdischen Höhle unnatürlich verzerrt.
Die Jungen stellten sich mit gezogenen Waffen ängstlich zusammen und versuchten, ihren unheimlichen Feind auszumachen. Argwöhnisch behielten sie die Tentakel im Blick, die bedrohlich hin und her zuckten.
„Wer bist du?“, rief ihr Anführer mit allem Mut, den er aufbringen konnte, und erntete ein fast amüsiertes Lachen, das den gesamten Raum ausfüllte.
„Ich bin die Antwort auf all eure Fragen und die Frage hinter jeder Antwort“, sprach die Stimme nun, als wäre es das Offensichtlichste auf dieser Welt. Tjalf und ihr Anführer sahen sich irritiert an. Das war keine sehr hilfreiche Antwort.
Doch bei dem jungen Kynepriester regte sich bei dem Gedanken an die überall dargestellte Verehrung des Wesens und der ständigen Abbildung dargebrachter Bücher und Wissens, ein furchtbarer Verdacht. Sein Lehrmeister hatte ihm gegenüber bisher zwar nicht oft von anderen
Göttern und daedrischen Fürsten gesprochen, doch die besonders eindringlichen Warnungen vor der Hinterhältigkeit des einen, uralten Feindes ihres Volkes, kamen ihm sofort wieder in den Sinn.
Es gab auch genug Balladen und Lieder darüber, wie der Widersacher tapfere Nord mit der Verheißung von unendlichem Wissen und Macht dazu verführte, einen trügerischen Handel einzugehen, aus dem sie sich dann befreien mussten um glorreich über ihn zu triumphieren.
Der intelligente Junge hatte sich dabei allerdings stets gefragt, wie ihnen das gelingen konnte, wo sie doch dem daedrischen Fürsten des Wissens und Schicksals gegenüber standen, der alle Entscheidungen bereits kannte, lange bevor man sie selber traf. Er schluckte und der Name des mächtigen Wesens kam ihm nur schaudernd über die Lippen.
„Herma Mora.“
Die langen Fangarme zuckten über den Scharfsinn seines Gastes freudig auf und ab und ließen die Insel bedrohlich wanken.


Leif bedachte sie am nächsten Morgen mit einem mitleidigen Blick, ehe er ihr wieder den wundersamen Trinkschlauch reichte.
Es hatte sie unglaubliche Selbstbeherrschung gekostet, überhaupt aus dem Bett zu kriechen und sie schwor sich, nie wieder einen Becher Met anzurühren, als sie mit den Übungsschwertern bewaffnet zu ihrer ersten Unterrichtsstunde aufbrach.
Sie trafen sich auf der abgelegenen Lichtung und die Schwerter würden wohl auch Verwendung finden, dienten aber in erster Linie der Täuschung. Ein Kampftraining ohne Waffen war recht unglaubwürdig. Sie legte die Schwerter neben sich ab und nahm einen Schluck von der Wundermedizin, während sie sich bereits ihre erste Lektion anhören durfte.
„Magie und Alkohol sind keine passenden Gefährten. Deine Zauber können unkontrollierte und gefährliche Formen annehmen.“ Sie nickte nur und war froh, als das magische Getränk wieder seine Wirkung zeigte und ihre Kopfschmerzen verflogen. Jetzt durfte der Skalde gerne weiterreden.
Er musterte sie eindringlich und fand wohl, dass es ihr wieder besser ging. Er nahm den Trinkschlauch zurück.
„Ich werde dir noch genau zeigen, wie du dieses Heilmittel herstellen kannst. Bei unserer trinkfesten Kultur wirst du es noch öfters brauchen“, prophezeite er ihr und zählte neben Wasser aus einer klaren Gebirgsquelle, welches unter dem Namen Lorkhans Tränen bekannt war, als Grundzutaten noch Akelei, Bergblumen und Wiesenschaumkraut auf.
Das würde alle ihre Lebensgeister zurückbringen und auch nach anstrengenden Zaubern ihre Magickareserven wieder auffüllen.
Während sie die Zutaten wiederholte und versuchte, sie sich zu merken, reichte der Skalde ihr eines der mitgebrachten Holzschwerter.
„Greif mich damit an.“
Sie nahm überrascht die Übungswaffe in die Hand und schenkte ihm einen skeptischen Blick.
Er hatte nichts zu seiner Verteidigung und wollte sie doch eigentlich Magie lehren.
„Sicher?“, fragte sie zögernd und er machte eine herausfordernde Handbewegung.
„Nur zu!“
Das Mädchen zuckte daraufhin mit den Schultern, ließ ihr Schwert von oben herab auf seinen Körper zielen und führte einen schwungvollen Abwärtshieb aus, wie sie es von ihrem Vater gelernt hatte.
Bevor ihre Waffe den Skalden jedoch erreichen konnte, prallte sie auf einen unsichtbaren Widerstand und die unerwartete Wucht ließ das Mädchen zurücktaumeln. Sie brauchte einen Moment, um sich zu fangen und zu begreifen, was da gerade passiert war.
„Das“, betonte er bedeutsam, „ ist das Erste und Wichtigste, das du als Magierin lernen wirst. Ein magisches Schild, das dich vor allen Arten von magischen und physischen Angriffen schützen kann.“
Er ließ mehr Energie in seinen Schild fließen, sodass es nun auch farblich sichtbar wurde.
Es umhüllte seinen gesamten Körper und wirkte wie eine große Seifenblase aus fließendem Wasser, die in einem sanften, violetten Farbton schimmerte.
„Erst wenn du es im Schlaf beherrschst, werden wir uns mit anderen Zaubern beschäftigen, denn mit dem Schild steht oder fällt deine Verteidigung.“
Sie sah das Schild begeistert an und streckte die Hand danach aus. Es prickelte als ihre Finger es berührten, doch sie konnte nicht hindurch greifen.
„Versuche es“, forderte der Skalde sie auf und erklärte ihr geduldig wie sie es anstellen musste, diesen Schutz zu erschaffen.
Sie brauchte jedoch einige Versuche, um genügend Energie zu bündeln, die als Schild durchgehen konnte und auch nur annähernd eine Form hatte, die ihren Körper einhüllte.
Der Skalde trat hinter sie und beäugte das Ergebnis kritisch, bevor er sein Übungsschwert nahm und die Spitze an ihren ungeschützten Rücken hielt.
„Für den ersten Versuch ganz brauchbar, aber noch weit von einem echten Schutz entfernt. Du musst die Energie gleichmäßig verteilen und aufrecht erhalten, das ist die große Kunst dabei“, belehrte er sie.
„Dadurch lernst du zugleich auch die nötige Energiekontrolle, die du für alle Arten von anderen Zaubern brauchst.“
Er ließ sie die Übung wiederholen, bis ihre Magicka erschöpft war und es ihr immer schwerer fiel, sich zu konzentrieren. Doch keines ihrer Schilde genügte seinen Anforderungen und er fand bei jedem sofort den Schwachpunkt. Das ärgerte sie und verbissen, wie es nur ein Nord sein konnte, wollte sie trotz der Erschöpfung weiter üben.
„Ich glaube, das reicht für heute“, beendete der Skalde daher die Lektion und bedeutete ihr, sich auf die Erde zu setzen.
„Ich möchte dir noch eine Geschichte erzählen.“ Die Kleine vergaß sofort ihren Ärger und nahm begeistert Platz. Der Skalde lächelte nachsichtig und räusperte sich kurz, bevor er mit seiner angenehmen Stimme zu erzählen begann.
„Einst lebte im fernen Atmora ein Jäger von außerordentlichem Geschick.
Er erlegte die Wolfsrudel, die sein Dorf bedrohten, und das gewaltige Mammut, als seine Leute hungerten. Er bezwang den Frosttroll zum Ruhme seiner Ahnen.
Es gab kein Tier, das er nicht erlegen konnte und bald schon zog es ihn fort von seinem Dorf um in der Ferne neue Beute zu finden, die ihn forderte.
Doch seine Suche blieb vergebens. Ihm begegnete kein Tier, das eine Herausforderung für ihn war oder er noch nie zuvor gesehen hatte.
Eines Tages erzählte ihm ein Reisender, dem er auf seinem Weg begegnete, von einem Ort, an dem ihm sein sehnlichster Wunsch erfüllt werden konnte, wenn er es wagte, dem Waldmenschen gegenüberzutreten und sich auf einen Handel einzulassen. Der Jäger zögerte nicht und brach sofort dorthin auf, denn er ahnte nicht, dass es sich um den großen Widersacher unseres Volkes handelte.“ Das Mädchen zog ihren Umhang enger um sich und lauschte gebannt.
„Der Weg war lang und beschwerlich, doch das schreckte den erfahrenen Jäger nicht. Er zog in den nördlichsten und ältesten Teil des Kontinents, den selbst unsere atmorischen Vorfahren aus gutem Grund mieden. Er fand den Ort dort gut verborgen in einer unterirdischen Höhle.
Es war eine große Kammer aus schwarzem Stein, in deren Mitte sich ein Podest erhob, dass in einem dunklen Teich ruhte und die Form eines gewundenen Tentakels hatte, der bis an die Decke reichte.“
Die Kleine zuckte kurz zusammen, als sie an ihren Alptraum zurückdachte und rieb sich schaudernd über das Bein, wo sie noch immer die unheimliche Berührung des Wesens im Wasser zu spüren glaubte.
Ich habe dich erwartet, Jäger, und weiß, was du begehrst, sprach der daedrische Fürst mit körperloser Stimme zu dem Mann.
Ich kann deinen Wunsch erfüllen, wenn du vorher auch etwas für mich tust.
>>Was soll ich tun?<<, fragte der Jäger und das Podest senkte sich herab bis eine kleine, tintenfischähnliche Statue sichtbar wurde.
Nimm mein Geschenk.
Der Jäger trat näher und griff nach der Figur. Ein Mann wird kommen, um eine Siedlung hinter dem großen Meer zu errichten. Schließe dich ihm an und trage diesen Teil von mir in die neue Welt. Errichte mir einen Schrein und ehre mich, dann werde ich dir deinen sehnlichsten Wunsch erfüllen und dich ein Wesen erblicken lassen, dass du noch niemals zuvor gesehen und gejagt hast. Dein Volk wird jenen feiern, der es erschlägt.
Der Jäger war ohne Argwohn und stimmte dem Handel begeistert zu. Endlich würde er seine große Beute bekommen.
Mehrere Jahre vergingen, in denen der Jäger dem Waldmenschen huldigte, bis er von einem Mann hörte, der eine gefährliche Überfahrt zu einem unbekannten Kontinent wagen wollte.
Er schloss sich den mutigen Siedlern an und brachte den uralten Widersacher somit über das große Meer zu uns in die neue Welt.
Dort verließ der Jäger die Gemeinschaft und errichtete dem Waldmenschen an einem geheimen Ort einen gewaltigen Schrein.
So vergingen die Jahre und er bekam nicht mit, wie die Siedler von den Schneeelfen überfallen und vertrieben wurden.
>>Ich habe meinen Teil des Handels erfüllt!<<, sprach er daher zu seinem Fürsten, als sein Werk vollendet war und auf dem Altar erschien eine gefüllte Schale.
Und ich halte mein Wort, erwiderte der Waldmensch und begann höhnisch zu lachen, als der Jäger daraus getrunken hatte und sich unerwartet zu verändern begann.
Der Mann erblickte mit Schrecken die Spiegelung seines Abbildes in der Oberfläche des Teiches, welches sich in ein spitzohriges Wesen verwandelte, wie er noch nie zuvor eines gesehen oder gejagt hatte.
Er begriff, dass er hereingelegt worden war und floh unter dem anhaltenden Gelächter seines Fürsten. Doch zu dieser Zeit war Ysgramor bereits mit seinen Gefährten zurückgekehrt und hatte die Jagd auf die Schneeelfen eröffnet. Er lief direkt in ihre Arme und wurde für einen der Elfen gehalten.
Und so wie der Waldmensch es vorausgesagt hatte, feiert das Volk bis heute jenen, der den unglücklichen Jäger erschlug.“
Die junge Nord sah den Skalden mit großen Augen an.
„Und das lehrt uns, sich niemals auf einen Handel mit einem daedrischen Fürsten einzulassen“, erklärte er warnend.
„Schon gar nicht mit dem Waldmenschen, den wir hier zu Lande Herma Mora nennen, denn seine Handel sind besonders heimtückisch.“


Die Jungen standen eine gefühlte Ewigkeit aneinander gekauert da, bevor sie ihre Sprache wiederfanden.
„Wir sollten jetzt wirklich langsam verschwinden“, flüsterte der Priesterlehrling den anderen mahnend zu. Seine Gefährten konnten nur zustimmend nicken, angesichts dieses Monsters vor ihren Augen. Sie hatten diesen furchterregenden Namen ebenfalls bereits in Liedern gehört und ihre Abenteuerlust war ihnen vergangen. Sie wollten nur noch fort von hier.
Auf ein Zeichen ihres Anführers hin, liefen sie gemeinsam zum nächstgelegenen Steg. Doch sie kamen nicht weit.
Bevor sie ihn erreichten, schossen überall zeitgleich weitere, gigantische Tentakel aus dem dunklen Wasser. Sie verknoteten sich ineinander und blockierten als undurchdringlicher und zuckender Wall jeden Ausweg.
Ihr wollt doch nicht etwa schon gehen?“ Die spöttische und überhebliche Stimme des daedrischen Fürsten hallte laut und schicksalsschwer durch den Raum.
Wir haben mein überaus großzügiges Angebot doch noch gar nicht besprochen.
Sein abgrundtief finsteres Lachen ließ die Wände erzittern und fand einen Weg aus den unterirdischen Tiefen bis hinauf an die Oberfläche, wo es vom tobenden Schneesturm fortgetragen wurde.

Teil 5

Die nächsten Wochen wich sie dem Skalden nicht mehr von der Seite und sog begierig alles auf,
was er ihr an ersten Schritten über Magie beibrachte.
Die anderen Kinder, denen sie im Dorf begegnete, warfen ihr jetzt überwiegend feindselige Blicke
zu, da es ihrer Meinung nach nicht gerecht war, dass ausgerechnet sie von einem der verehrten
Streiter Kynes ausgebildet werden sollte, wagten jedoch nicht, das allzu laut auszusprechen.
Die Erwachsenen schienen das nämlich anders zu sehen und sie bemerkte, wie respektvoll sie mit
dem Skalden sprachen, seit er sich offenbart hatte, und ihren Eltern – so wie auch ihr – zu dieser
großen Ehre gratulierten.
Es war derzeit das einzige Gesprächsthema und man war sich sicher, dass sie dem ganzen Dorf
eines Tages viel Ruhm und womöglich einige Erwähnungen in Liedern einbringen würde.
„Jetzt verstehst du, wieso ich mich nicht immer gleich zu erkennen gebe“, amüsierte sich der Skalde
über ihr Unbehagen darüber, so im Mittelpunkt zu stehen.
„Ist das wirklich der einzige Grund?“, hakte sie scharfsinnig nach, da sie den gutmütigen Scherz
dahinter erkannte, und ihr Lehrmeister nutzte die Gelegenheit sogleich für einige mahnende Worte.
„Es ist immer von Vorteil, wenn ein Feind dich unterschätzt. Man weiß nicht immer auf den ersten
Blick, wer sich als solcher offenbart. Du solltest daher nie zu früh zeigen, was du wirklich kannst.
Egal ob mit dem Schwert oder der Magie.“
Sie dachte kurz darüber nach und nickte, während sie zugleich darauf hoffte, hierzu eine weitere
seiner spannenden Geschichten zu hören, denn sie genoss seine lehrreichen Erlebnisse, die er in den kleinen Unterrichtspausen einfließen ließ.
Sie erfuhr dabei, wie wundervoll groß und vielseitig Tamriel war und fühlte sich in ihrem kleinen
Dorf plötzlich von all diesen Wundern und fremden Ländern abgeschnitten.
„Ich würde auch gerne einmal nach Sommersend reisen und die Hochelfen sehen“, kommentierte
sie seinen letzten Reisebericht wehmütig, was ihm ein Lachen entlockte.
„Nun, so weit wird dich dein erstes Abenteuer noch nicht führen, aber ich muss bald zurück nach
Winterfeste.“ Er senkte verschwörerisch die Stimme, „und würde dich mitnehmen, wenn du dich
mit einem magischen Schild gut genug gegen die Gefahren des Weges schützen kannst.“
Er zwinkerte ihr zu und wusste anscheinend genau, dass er sie damit wieder für die kräftezehrende
Übung begeistern konnte, mit der er sie die letzten Wochen forderte, obwohl er sie bestimmt in
jedem Fall mitgenommen hätte.
Sie nahm an, es machte die Sache für ihn lediglich einfacher, falls sie angegriffen wurden, denn
dann konnte er sich ganz auf seine Gegner konzentrieren und musste sie nicht gleichzeitig
beschützen.
Das Mädchen sprang sofort voller Tatendrang auf. Von Winterfeste hatte sie schon viel gehört. Es
war schließlich die Hauptstadt des Jarltums, zu dem auch ihr Dorf gehörte, wenngleich es in ihrer
Vorstellung unendlich weit weg zu sein schien.
Ihr kam ein merkwürdiger Gedanke.
„Wieso hat unser Dorf eigentlich einen eigenen Jarl?“, fragte sie, nun stutzig geworden.
Sie wusste, Jarls waren eigentlich die großen Anführer der neun Fürstentümer Himmelsrands und es
schien ihr seltsam, dass man ihren Häuptling mit ihnen gleichsetzte.
Der Skalde sah sie lange an, bevor er mit einem anerkennenden Ausdruck im Gesicht auf ihren
Scharfsinn antwortete.
„Weil er der Jarl von Winterfeste war, bevor er das Amt zurückgab und es durch eine Wahl wieder
an seine Mutter fiel. Sie hat ihm den Titel allerdings nie aberkannt, weil sie immer noch hofft, er
würde zur Vernunft kommen und seine Verantwortung für unser Volk übernehmen. Sie ist
schließlich nicht mehr ganz die Jüngste und sähe ihn gerne wieder in ihren Fußstapfen oder voller
Stolz als neuen Großkönig.“ Die Stimme ihres Lehrmeisters wurde düster.
„Dabei hat er genau das getan als er darauf verzichtete, nur wird sie das wohl niemals erfahren.“
Er räusperte sich als ihm offenbar klar wurde, dass er ungewollt abgeschweift war.
„Jedenfalls ist er für viele hier immer noch der Jarl und sie erweisen ihm mit der Anrede den
gebührenden Respekt.“
Das Mädchen überging den sonderbaren Zusatz und starrte den Mann vor sich ungläubig an.
Wer verzichtete freiwillig darauf, ein bedeutender Anführer ihres Volkes zu sein und lebte lieber in
einem kleinen, abgeschiedenen Dörfchen wie Thorwig? Er hätte sogar zum Großkönig werden
können.
Diese ungewöhnliche Geschichte, die ihn dazu getrieben hatte, das alles aufzugeben, wollte sie zu
gerne hören, doch der Skalde schien nicht geneigt, sie ihr heute zu erzählen, darum stellte sie lieber
die nächste Frage.
„Wie ist es da so?“
Der Nord lächelte nachsichtig über ihre Wissbegierde, vergaß den verdrießlichen Gedanken und
verfiel nun selbst ein wenig ins Schwärmen.
„Es ist eine der großartigsten Städte unseres Volkes, genauso alt und schön wie Windhelm, und
verfügt über die einzige Magierakademie, die je in Himmelsrand gegründet worden ist.“
Bei der ungewohnten Vorstellung an eine Schule nur für Magie wurden ihre Augen groß.
Die musste sie unbedingt sehen.
„An klaren Tagen kann man von dort aus sogar über das Geistermeer zwischen der Insel Solstheim
und der Küste des Festlandes direkt bis nach Vvardenfell blicken und den berüchtigten Roten Berg
sehen.“ Er malte mit einem Stock eine Karte für sie in den Sand um seine Beschreibung zu
verdeutlichen.
„Es ist auch einer der wenigen Orte in Himmelsrand, wo du ungewöhnlich vielen Dunkelelfen auf einmal begegnen kannst.“
Die Kleine wurde hellhörig bei der aufregenden Erwähnung von Elfen, ließ ihren Lehrer jedoch
ohne Zwischenfrage weiterreden. Er würde ihr ohnehin gleich mehr verraten, das kannte sie bereits
von ihm.
„Viele Dunmer flohen vor dem Ausbruch des Roten Berges mit Schiffen aus Morrowind nach
Winterfeste, weil es die erste sichere Anlaufstelle nahe ihrer Heimat war und sie sich in
angemessener Entfernung zu der schrecklichen Katastrophe befanden. Seitdem sind viele von ihnen in Winterfeste geblieben und bereichern auch die Akademie mit ihrem magischen Wissen.“
Er kratzte sich am Bart.
„Das ist natürlich nicht immer einfach. Die Jarl hat alle Hände voll damit zu tun, die Vorurteile und
Spannungen abzubauen, die das Zusammenleben zweier so unterschiedlicher Völker in einer Stadt
voller streitlustiger Nord mit sich bringt. Ebenso im Rest ihres Fürstentums, denn jeder
Zwischenfall gefährdet das Verhältnis zum Tribunal und den großen Häusern Morrowinds.“
Das Mädchen sah ihn verständnislos an, da sie nicht wusste was das Tribunal war, nahm dann aber
einfach an, es musste sich um die Führung der Dunkelelfen handeln.
Wieder einmal erkannte sie, dass die Welt um sie herum viel größer war, als sie geglaubt hatte, und
nahm sich vor, so viel wie möglich davon zu sehen und zu lernen.
„Können wir weiter machen?“, unterbrach sie die Auszeit jetzt aufgeregt und hatte sich bereits
wieder so aufgestellt, dass er ihr Schild beurteilen konnte.
Der Skalde verzog verräterisch den Mundwinkel, als hatte er nur darauf gewartet und bedeutete ihr
mit einer lässigen Geste seiner Hand fortzufahren, während er wieder penibel auf jeden Fehler in
ihrer Verteidigung hinwies.
Erst als sich die Sonne zum Ausklang des Tages langsam hinter den Wald herabsenkte, beendeten sie die Übung und gingen zurück ins Dorf.


„Was genau willst du von uns?“, gab sich ihr Anführer nun angesichts ihrer ausweglosen Lage für
sie alle geschlagen.
„Einen Triumph“, kam daraufhin die undurchsichtige Antwort des daedrischen Fürsten und der
Priesterlehrling hatte kein gutes Gefühl bei diesen Worten. In den meisten Liedern waren die Feinde
von Herma Mora stets das Volk der Nord gewesen, doch es gab auch andere, die von Kämpfen oder
gar Wetten mit anderen Fürsten aus dem Reich des Vergessens handelten. Wenn er einen Triumph
wollte, konnte das so gut wie alles bedeuten.
Was es auch war, es würde sie in schreckliche Ereignisse hineinziehen und wäre sicher sehr
gefährlich, soviel war dem Jungen klar.
„Und wenn wir einen Handel ablehnen?“, wagte er vorsichtig, ihre Möglichkeiten auszuloten,
obwohl sie noch nicht gehört hatten, was er ihnen im Gegenzug anbot. Viel konnte es nicht sein,
denn sie waren ihm hier vollkommen ausgeliefert.
Sofort spürten die Jungen das herannahende Grollen eines gewaltigen Echos, das durch sein
finsteres Lachen erzeugt wurde.
„In dem Fall begnüge ich mich mit jenem von euch, der meinem Handel bereits zugestimmt hat und
ihr anderen werdet heute hier sterben.“
Einer seiner Tentakel machte eine wegwerfende, überaus
menschlich wirkende Geste.
„Für mich ist es einerlei. Ich werde mir einfach jemand anderen suchen, der meinen Triumph
verwirklicht. Zeit spielt dabei keine Rolle.“

Die drei Jungen sahen sich irritiert an. Keiner von ihnen hatte etwas gesagt, was einer Zustimmung
auch nur im Entferntesten nahe kam.
Der Blick des jungen Magiers glitt unwohl zu dem Altar zurück und eine furchtbare Ahnung
beschlich ihn.
Es war ihm bereits anfangs seltsam vorgekommen, wieso ausgerechnet diese drei ausgewählten
Dinge auf dem Altar lagen, die wie für sie gemacht zu sein schienen.
Das Buch für einen Magier, das Schwert für einen Krieger und besonders das frische Essen für
Tjalf. Er schluckte.
Womöglich waren diese Gaben nur dazu gedacht, sie vorschnell an sich zu nehmen und sich damit
unwissentlich bereits auf den Handel einzulassen. Eine recht hinterlistige Falle, befand er empört.
Wieder verfluchte der junge Magier seinen Freund für seine ungestüme Dummheit, mit der er die
heimtückische Gabe des daedrischen Fürsten so leichtfertig angenommen hatte. Man durfte in
einem Schrein des Widersachers nichts an sich nehmen, das wusste doch eigentlich jedes Kind.
Tjalf schien seinen verheerenden Fehler nun ebenfalls zu begreifen und sah seine Freunde
kreidebleich an.
„Ich wollte nicht…“, stammelte er fassungslos und konnte schließlich vor Entsetzen nicht
weitersprechen. Erst als ihm die Tragweite bewusst wurde, entfuhr ihm mit furchtsamer Stimme die
entscheidende Frage.
„Welchen Handel bin ich eingegangen?“ Er klang zutiefst entsetzt darüber, seine weitere Zukunft
für eine Mahlzeit verwirkt zu haben.
„Du wirst der neue Wächter meines Schreins“, verkündete der Fürst, woraufhin Tjalfs Freunde
hilflos mitansehen mussten, wie ihr Gefährte sich vor ihren Augen in etwas Abscheuliches
verwandelte, das dem Daedraherren für diese Aufgabe angemessen zu sein schien. Dutzende Augen auf einer durchsichtigen grünen Masse, die wie Wackelpudding wirkte, starrten sie furchtsam
aufgerissen an. Der junge Magier fragte sich, wie viel von Tjalfs altem Ich wohl noch vorhanden
war.
„Shor, sei ihm gnädig“, stammelte ihr Anführer und wich zusammen mit dem jungen Magier vor
der gigantischen neuen Gestalt ihres Freundes zurück.
„Und nun zu euch“, wandte sich Herma Mora mit abstoßend geschäftstüchtiger Stimme an die
beiden verbliebenen Jungen, die zu ihrem Entsetzen nun ein ebenso schreckliches Schicksal für sich
voraussahen, wie das ihres unglückseligen Gefährten.
„Für meinen Triumph benötige ich noch einen Sucher und einen Streiter“, verkündete er, ohne
näher auf die Bedeutung einzugehen, oder ob sie dafür ebenfalls eine andere Gestalt erhalten
würden.
„Da ihr es jedoch abgelehnt habt, meine Gaben und den Handel sofort anzunehmen, bleibt euch als mein neues Angebot für euren Dienst nur euer Leben.“ Er lachte finster und schien sich über diese Hinterlist zu amüsieren. Ein dicker Tentakel schob sich demonstrativ vor den Altar und machte ihn nun unerreichbar.
Der Blick des Priesterlehrlings glitt panisch zurück zu dem Stein, auf dem sich mit Sicherheit etwas
befand, das ihnen hilfreich gewesen wäre.
Schnell legte er seinem verbliebenen Freund die Hand auf den Arm, bevor er etwas Unüberlegtes
sagen konnte.
„Tu nichts Vorschnelles und überlass mir das Reden“, bat er flüsternd, obwohl er wusste, wie schwer
es seinem Gefährten fallen musste, bei Tjalfs Anblick nichts zu seiner Rettung zu unternehmen.
Doch ein Angriff wäre sinnlos und jedes unbedachte Wort gefährlich. Nur wenn sie überlebten und
dazu schlauer waren als der Fürst, konnten sie ihrem Freund womöglich helfen und sich selbst eines
Tages wieder aus dem Handel befreien.
In den Liedern gab es schließlich genug Beispiele dafür, wie es den Helden gelungen war.
Der junge Priesterlehrling überlegte nun fieberhaft, bis er sich plötzlich wieder an eine der ältesten
Heldenballaden erinnerte, welche die Arroganz seines bösartigen Gegenübers besonders hervorhob
und die scheinbare Ausweglosigkeit seiner Handel.
Viel interessanter war dabei jedoch, dass er auch in diesem Epos einen Helden ausersehen hatte, um sein Wissen zu mehren.
Wozu brauchte er Diener, die ihm Wissen beschafften, wenn er angeblich über alles Wissen der Welt und bereits aller noch kommenden Zeitalter verfügte? War das womöglich nur überhebliches
Geprahle und entsprach gar nicht der Wahrheit?
Der gescheite Junge zählte alles in Sekundenbruchteilen zusammen. Sie mussten ihn dazu bringen,
mit einem vorteilhafteren Handel hier heraus zu gehen, als nur ihr Leben zu behalten, oder sie waren wirklich verloren und dazu verdammt, zu tun, was er von ihnen wollte, oder ihr restliches Leben in der Gestalt zu bleiben, die er ihnen auferlegte.
Sofort war ihm klar, dass der daedrische Fürst bereits festgelegt hatte, wer welche Rolle bei seinem
geheimnisvollen Triumph übernehmen sollte, und griff sie auf.
„Du willst, dass einer dir neues Wissen beschafft? Dann werde ich das im Tausch für mein Leben
tun. Aber wie wäre es mit einem weiteren Handel? Was wäre, wenn ich dir zusätzlich die Suche
nach einem ganz besonderen Wissen anbiete. Eines, das du mit Sicherheit unbedingt haben
möchtest?“
Für einen Moment schien Herma Mora sprachlos über diese Dreistigkeit, ihm ein weiteres Angebot
zu unterbreiten, doch sie merkten, dass der Fürst tatsächlich überlegte, ob er sich darauf einlassen
wollte. Seine Fangarme hielten mit einem Mal alle still, was jedoch noch viel bedrohlicher wirkte
als ihre vorherige Bewegung.
„Mache deinen Vorschlag und wir werden sehen.“
Das Herz des Jungen vollführte einen triumphierenden Satz. Er ging tatsächlich darauf ein!
Das hieß, er prahlte wirklich nur damit, alles Wissen zu besitzen, es entsprach aber nicht ganz der
Wahrheit. Somit würde er sein Angebot sicher nicht ausschlagen können. Ein Angebot, welches sie
zugleich eines Tages retten konnte.
Der junge Magier befeuchtete angespannt seine Lippen.
„Wenn du zustimmst, werde ich nach dem Wissen suchen, das ich brauche, um dich zu vernichten!“
Der daedrische Fürst stutzte kurz und wirkte dadurch für den Bruchteil eines Augenblicks verblüfft,
dann lachte er erneut in einem schallenden, finsteren Echo, während seine Tentakel wieder
bedrohlich durch den Raum peitschten und die beiden Jungen hastig ihre Köpfe einzogen.
„Hältst dich für klug, kleiner Nord. Es haben schon viele versucht, mich zu überlisten und sind alle
kläglich daran gescheitert.“

Trotz seiner spöttischen und zugleich amüsierten Worte ging er weiter darauf ein.
„Das wäre in der Tat ein Wissen, das ich noch nicht besitze, denn es existiert nichts, was mich töten
könnte.“
Er klang überheblich und sehr davon überzeugt, was aber genauso gut reine Prahlerei sein
konnte.
„Wie kannst du dir da so sicher sein? Wenn du schon alles weißt, wozu brauchst du dann überhaupt
einen Sucher?“, bemühte sich der Junge, Zweifel zu säen.
Der Fürst schwieg und ein fast greifbarer Zorn lag in der Luft. Offenbar hatte der Priesterlehrling
die Schwäche des Wesens richtig erkannt.
Herma Mora schien nun laut zu überlegen, während er dem dreisten Burschen damit zugleich die
vermeintliche Sinnlosigkeit dieses Handels deutlich vor Augen führte.
„Sofern es dieses Wissen gibt, wirst du es mir verraten müssen und ich werde deinen Plan
durchschauen und vereiteln können. Falls es nicht existiert, wirst du dein Leben lang für mich auf
der Suche verbleiben und meinem Reich Apocrypha viel Neues hinzufügen.“

Seine Tentakel bewegten sich scheinbar grübelnd sanft hin und her.
Der Handel schien ihm nach einiger Bedenkzeit nun ausgesprochen gut zu gefallen.
„Und was möchtest du im Gegenzug von mir?“
Das Herz des klugen Magiers machte nun einen erleichterten Satz und er nahm all seinen Mut
zusammen. Sollte der Daedraherr darauf eingehen, konnte er zumindest seine Freunde retten.
„Lass die anderen gehen. Entlasse Tjalf aus seinem Handel und verwandel ihn zurück“, forderte er.
Einen Versuch war es wert. Die beiden Jungen hielten den Atem an und er spürte, wie sein Freund
vor Anspannung seinen Arm unangenehm fest drückte.
„Nein“, kam die befürchtete Antwort. Durch die Wucht des Echos rieselten einige kleine Steine von
der Decke herab und landeten mit einem plätschernden, geradezu endgültigen Geräusch im Wasser.
Ihm musste also etwas anderes als Forderung einfallen, doch weiter hatte er noch nicht gedacht. Er
wusste nur, dass ihm schnell etwas einfallen musste, bevor der daedrische Fürst das Interesse an
dem Handel verlor, der ihre einzige Rettung darstellte.
Sein Blick glitt panisch durch den Raum und blieb erneut an dem Altar hängen. Es hätte seiner
Einschätzung nach gut zu Herma Mora gepasst, ihnen später vor Augen halten zu können, was
ihnen an wertvollen Gaben entgangen war.
Damit konnte er nach dem nötigen Wissen suchen, ihn zu vernichten und sie hätten vielleicht zugleich noch etwas weiteres Nützliches dazu in der Hand.
Er traf seine Wahl.
„Dann gib uns deine vorbereiteten Gaben und verrate uns, wozu sie gut sind.“
Der Daedra schien amüsiert. „Das sind zwei verschiedene Dinge. Eines davon werde ich dir
gewähren. Über das andere können wir noch einmal verhandeln.“
Er lachte und wusste, dass der
Nord kein weiteres Angebot vorbringen konnte, das ihn interessierte.
„Triff deine Entscheidung“, forderte Herma Mora und ließ keinen Zweifel an seiner wachsenden
Ungeduld.
„Dann gib uns deine Gaben“, gab sich der junge Kynepriester geschlagen. Das war besser als
nichts. Sie würden schon selbst herausfinden, wozu die Sachen gut waren. Das sollte nicht allzu
schwer sein, jetzt wo er sein Wissenssucher war, dachte der Junge ausgefuchst.
„Du hast es immerhin versucht“, meinte sein verbliebener Gefährte und trat vor, um sich auf den
letzten ausstehenden Handel einzulassen. Er wusste ebenfalls, dass sie Tjalf nicht helfen konnten,
wenn sie jetzt hier starben und er hoffte wohl genauso darauf, später gemeinsam eine Lösung zu
finden.
Der junge Kynepriester hörte die schrecklichen, zustimmenden Worte, die das unbekannte Schicksal seines Freundes als Herma Moras Streiter besiegelten und fragte sich, was das für ihn bedeuten mochte.
Er setzte es mit auf die Liste der Dinge, die er herausfinden wollte, während er zu dem
Altar schritt. Der Tentakel gab jetzt den Weg frei und er nahm nach kurzem Zögern das Buch an
sich, während sein Gefährte das Schwert aufhob und es eingehend musterte.
„Das verspricht interessant zu werden. Ich werde dich und deine Fortschritte genau im Auge
behalten und freue mich schon auf unsere nächste Begegnung, kleiner Leif Boddason.“

Der daedrische Fürst zog sich nach diesen Worten lachend wieder ins Reich des Vergessens zurück.
Die Augen am Altar schlossen sich, seine Tentakel versanken im Wasser und gaben den Weg über
die Brücke und damit in die Freiheit endlich frei.
Während Tjalf in seiner unglücklichen neuen Gestalt zurückbleiben musste, verfolgte die beiden
anderen Jungen das schadenfrohe, unheimliche Lachen Herma Moras noch bis nach draußen. Leif
hatte dabei plötzlich das ungute Gefühl, mit diesem zusätzlichen Handel womöglich einen schweren Fehler begangen zu haben, konnte aber noch nicht erkennen, welcher das sein sollte.


„Du willst uns wirklich schon wieder verlassen?“ In der Stimme des Jarls schwang ein
verständnisloser, fast ängstlicher Unterton mit.
„Du warst kaum einen Monat hier. Was machen wir, wenn er zurückkommt?“
Leif schüttelte leicht unwirsch den Kopf, da sie das im Lauf der letzten Wochen bereits viele Male
besprochen hatten. Dennoch versuchte er seinen langjährigen Waffengefährten noch einmal zu
beruhigen.
„Das wird für die nächsten Jahre nicht geschehen, das weißt du genau. So lange er satt ist, bleibt er
als Wächter an den Schrein gebunden und kann dort nicht weg.“
Er verzog unglücklich das Gesicht und sah sich prüfend in der leeren Halle um, bevor er seinen
wahren Beweggrund aussprach.
„Aber ich fürchte, die Kleine hat sein Interesse als nächste Mahlzeit geweckt, als sie ihm
widerstand und ihm ihre Kräfte offenbarte, oder schlimmer noch, die seines Herrn, der alles durch
ihn sieht und sie jetzt womöglich zu seinem neuen Werkzeug und meiner Gegenspielerin machen
will. Beides wäre ausgesprochen schlecht für uns.“ Seine Stimme nahm trotz dieser Aussicht einen
triumphierenden Klang an.
„Er weiß, dass ich der Einlösung meines Handels näher gekommen bin und wird das verhindern
wollen.“
Der Jarl sah ihn ungläubig an.
„Du hast etwas gefunden, das ihn vernichten kann?“
Leif schüttelte widerwillig den Kopf.
„Sagen wir, ich weiß jetzt zumindest, dass wir dazu in sein Reich Apocrypha müssen. Hier können
wir ihm nichts anhaben.“
Sein Freund sah ihn geradezu entsetzt an.
„Aber dort ist er am mächtigsten.“ Er beruhigte sich ein wenig als ihm aufging, wie gering ihre
Möglichkeiten waren, überhaupt dorthin zu gelangen.
„Und wie willst du dort hinkommen?“, fragte er dennoch vorsichtig, denn er kannte den
Einfallsreichtum seines Freundes, der ihm durch seine jahrelange Suche mittlerweile so weit an
Wissen voraus war, dass es ihn manchmal fast ängstigte, ihm zuzuhören.
„Die Kleine“, begann er seine Erklärung.
„Tjalf hat sie markiert, um sie wiederzufinden und damit ungewollt mit Apocrypha verbunden, da er
selbst nun ein Teil davon ist. Wenn sie lernt, ihre Magie und diese besondere Verbindung zu nutzen,
kann sie uns vielleicht ein Portal dorthin öffnen und der erste Schritt wäre gemacht.“
Der Skalde verschwieg wohlweislich, welche großen Gefahren das für einen Magier barg und, dass
sie dazu noch ein weiteres Mal in den Schrein und zu seinem bedrohlichen Wächter zurückkehren
mussten. Ganz abgesehen von den eigentlichen Gefahren, die das Reich Apocrypha für Sterbliche
barg, die töricht genug waren, sich dorthin zu wagen.
„Aber sollte der daedrische Fürst sie in die Finger bekommen, bevor ich weiß wie wir ihn
anschließend dort vernichten können, wäre unsere einmalige Chance dahin. Daher muss sie nach
Winterfeste. Die Akademie ist mit starken Schutzzaubern versehen und dort bekommt sie eine viel
umfangreichere magische Ausbildung als ich es ihr alleine bieten könnte.“
Der Jarl schien noch nicht ganz überzeugt.
„Dir ist schon klar, dass du Winterfeste damit in große Gefahr bringst?“
Leif zuckte ungewohnt kühl mit den Schultern.
„Ich hatte viel Zeit darüber nachzudenken und glaube, er wollte Winterfeste ohnehin bereits von
Anfang an haben. Wieso sonst hätte er den zukünftigen Jarl unter seine Kontrolle bringen wollen?
Das denkst du doch mittlerweile selbst, deswegen hast du den Posten so schnell aufgegeben, damit er über dich keinen direkten Zugriff mehr auf die Stadt und unser Jarltum hat.“
Sein Freund brummte widerwillig, da er ihn durchschaut hatte. Ihm war über die Jahre bereits ein
viel weitreichenderer Gedanke gekommen, als er an seinen Handel zurückdachte.
„Oder gleich auf ganz Himmelsrand, wenn ich Großkönig geworden wäre.“ Er schauderte.
„Mit dem Schwert durchaus denkbar. Ein Schwert, das einen die Züge seines Gegners immer
voraussehen lässt und niemals einen zweiten Streich für einen Feind braucht, egal ob man einen
Frosttroll oder Menschen damit fällt.“
Der starke Mann schien nun keine Kraft mehr zum Streiten zu haben und wurde selbstmitleidig,
während er gedankenversunken über den Knauf seines verzauberten Schwertes strich, dessen
Klinge mit ungewöhnlichen daedrischen Runen verziert war und ein Heft besaß, das zwei
umschlungenen Tentakeln glich, die sich als Ausläufer zur Parierstange formten.
„Woher hätte ich damals wissen sollen, dass dieses verfluchte Schwert mir das Ansehen unserer
Leute sichert und sie mich für meine Kampfkunst und Weitsicht zum Jarl wählen?
Es ist fast, als hätte er genau gewusst und gewollt, dass du diesen zweiten Handel zu unserer
Rettung eingehst und ich das Schwert bekomme.“
Leif schwieg und ließ seinem Freund die Möglichkeit, seinem Frust Luft zu machen, während er
selbst versuchte, nicht zu zeigen, welchen empfindlichen Nerv sein Freund damit bei ihm getroffen
hatte.
Das war tatsächlich seit einiger Zeit seine eigene, schreckliche Vermutung und würde dem Ausgang
seines Vorhabens bereits ein festgelegtes Ende geben, welches sie noch nicht einmal erahnen
konnten, ihnen aber mit Sicherheit nicht gefiel.
Doch Leif wollte einfach nicht glauben, dass sie nur unwissende Spielsteine auf dem
unüberschaubaren und gewaltigen Spielbrett des daedrischen Fürsten waren, die trotz ihrer
Bemühungen genau das taten, was er von ihnen wollte.
„Wann willst du aufbrechen?“, durchdrang die Frage des Jarls seine unheilvollen Überlegungen.
Offenbar sah er jetzt ebenfalls ein, dass sie diese einmalige Chance nutzen mussten, um sich und
ihren unglücklichen Gefährten zu retten.
„Morgen früh“, antwortete der Skalde und der Jarl nickte.
„Dann hoffe ich, du weißt, was du tust.“
Der stämmige Nord schenkte seinem Freund zum Abschied eine kameradschaftliche Umarmung.
„Das hoffe ich auch“, murmelte Leif und wandte sich zur Tür.
Bevor er sie öffnen und hinaustreten konnte, hielt der Jarl ihn noch einmal düster zurück.
„Du hast mir nie verraten, was in dem unheiligen Buch stand, das du als Gabe erhalten hast.“
Leifs Hand erstarrte über dem Griff der Tür.
„Das möchtest du nicht wissen“, flüsterte er leise.
Dann wandte er sich ab und verließ ohne ein weiteres Wort das Haus seines Freundes, für dessen
Rettung er womöglich den Untergang Winterfestes besiegelt hatte, falls sein gewagter Schachzug
mit dem Mädchen misslang.


Sera spürte einen eisigen Wind auffrischen, der die weißen Vorhänge an dem geöffneten Fenster
ihres Zimmers immer stärker anhob und aufblähte, wie ein atmendes Tier.
Ein gespenstisches, grünes Licht schimmerte geradezu unwirklich durch die breite Öffnung herein
und tauchte den Raum in einen ganz eigenen Schrecken aus Farben, die nicht dieser Welt
entsprangen und einem durch ihre Fremdartigkeit sofort den Verstand rauben konnten.
Sie trat schnell näher heran, um das Fenster zu schließen, und sah dabei hinaus auf das unruhige
Geistermeer, welches sich ungemütlich aufgepeitscht vor der Stadt erstreckte und überhaupt nichts
Einladendes mehr an sich hatte.
Der Name hatte ihr bereits seit ihrer Ankunft in diesem fremden Land Unbehagen bereitet, doch der Anblick, der sich ihr jetzt bot, übertraf all ihre früheren Ängste.
Die Wellen begannen sich auf unnatürliche Weise zu einem immer gewaltigeren Gebirge in den
Himmel hinauf zu türmen und drohten Winterfeste vollständig zu verschlingen, das wehrlos unter
ihnen lag.
Selbst die berühmte Magierakademie wirkte klein und verloren gegen die gigantische Wand aus
Wasser, die sich immer weiter erhob und die Sonne verdunkelte.
Ein langer, dunkler Schatten breitete sich, wie der zuckende Fangarm eines gigantischen
Meeresungeheuers, über der gesamten Stadt aus und ließ eine unnatürliche Stille zurück, wo er sie
berührte. Es war fast, als würde das Leben sofort bei der Berührung mit ihm erlöschen.
Für eine gefühlte Ewigkeit schien die Zeit in diesem einzigen Augenblick zu verharren und die
schreckliche Bedrohung, wie ein erhobenes Henkersschwert, nur noch auf den Befehl eines
unsichtbaren Herrn zu warten, um endlich sein zerstörerisches Werk zu verrichten.
Sera entdeckte im grün schimmernden Wasser unzählige, abartige Tentakel, die zu einer
überwältigenden Größe daraus emporwuchsen und gegen die Mauern der mächtigen Stadt
schlugen. Sie rissen große Teile des Walls heraus und schleuderten sie wie Spielzeuge ins Meer,
während ein kraftvolles, höhnisches Lachen ihren Untergang begleitete.
Dann fuhr das Schwert mit seinen unendlichen Wassermassen auf sie herab und das nasse Chaos
brach über sie alle herein.


Sera wälzte sich unruhig im Schlaf auf die Seite und stieß dabei mit ihrer Hand die Skoomaflasche
vom Nachttisch, die dumpf auf dem Holzboden des Zimmers aufschlug und dort ihren spärlichen
letzten Rest an Inhalt verschüttete.
Schläfrig öffnete die Dunkelelfe die Augen und hatte sofort das Gefühl, schlecht geträumt zu haben. Nein, wurde ihr schaudernd klar. Es war mehr als das.
Sie hatte in ihrem Traum dasselbe Entsetzen verspürt wie damals, bevor der Rote Berg
ausgebrochen war und sich todbringend über ihre Heimat ergossen hatte.
Heute wusste sie, dass Mephala versucht hatte, ihre Dienerin mit einem Traum zu warnen, doch Sera hatte nicht vermocht, den über Jahre zugeworfenen Faden zu entwirren und sich einfach nicht
vorstellen können, dass etwas so Schreckliches passieren konnte.
Sie starrte auf die Flasche Skooma, die ihr seitdem half, nachts einzuschlafen und die Schreie
tausender verbrennender Dunmer zu vergessen, denen sie nicht mehr hatte helfen können, als sie ihr eigenes Überleben an erste Stelle gesetzt hatte.
Die Frau hob die Flasche auf und trat dann an den Wandspiegel, wo sie auf ihrer hellblauen Haut
sofort die dunklen Schatten unter ihren leuchtend roten Augen bemerkte.
Sie hatte wirklich schon sehr lange nicht mehr richtig geschlafen.
Vielleicht war das aber auch Mephalas Strafe dafür, dass sie ihr altes Leben einfach hinter sich
gelassen und Morrowind den Rücken gekehrt hatte, statt nach der überstandenen Katastrophe
dorthin zurückzukehren.
Sie war noch immer ein Mitglied der Morag Tong und hätte sich melden müssen, doch dann hätte
man ihr wieder Aufträge erteilt und sie wusste nicht, ob sie jemals wieder ein Leben nehmen
konnte. Sie sah immer nur die grausam sterbenden Landsleute und fühlte sich so unendlich
schuldig, weil sie es vielleicht hätte verhindern können, wenn sie die Botschaft verstanden und die
großen Häuser gewarnt hätte. Vielleicht wären auch Fürst Vivec und das Tribunal in der Lage
gewesen, etwas zu tun um das Unheil abzuwenden, wenn sie nur zu ihnen gegangen wäre.
Sera wusste zwar nicht, was das hätte sein sollen, aber diese Überlegung minderte ihre
Schuldgefühle kein bisschen.
Die Frau wandte sich um und schloss, nach einem prüfenden Blick auf das ruhig daliegende
Geistermeer, das aufgestoßene Fenster. Dabei verrutschte der Ärmel ihres Schlafgewandes ein Stück und gab einen Teil der grässlichen Brandwunde Preis, welche sie damals davongetragen hatte, als das flammende Inferno über sie hinweggefegt war.
Sie war schnell verheilt, doch die Narben auf ihrer Seele brannten selbst nach all den Jahrhunderten
noch immer mit so einem intensiven Feuer, als wäre es gerade erst entfacht worden.
Ein plötzliches Geräusch an der Tür ließ sie aufhorchen.
Schnell griff sie nach dem verborgenen Dolch unter ihrem Gewand, den sie selbst zum Schlafen nie
ablegte, und schlich leise zur Tür.
Sie sah gerade, wie ein Brief verstohlen unten hindurch geschoben wurde und riss die Tür auf.
Ungläubig spähte sie zu beiden Seiten den leeren Gang entlang. Niemand war so gut, dass er
innerhalb eines einzigen Augenblickes verschwinden konnte.
Außer er benutzt von Anfang an einen Unsichtbarkeitstrank, schoss es ihr durch den Kopf und sie
warf die Tür auf diesen Gedanken hin schnell wieder zu, bevor jemand sie von vorne überrumpeln
konnte. Doch im Flur blieb es ruhig. Der ungewöhnliche Bote war offenbar fort.
Sie stand trotzdem noch eine weitere Minute alarmiert da, dann erst steckte sie den Dolch wieder
weg und nahm den Brief hoch.
Die Dunkelelfe schluckte, als sie das Siegel sah.
Es war ein persönlicher Erlass von Fürst Vivec.
Sera starrte den Brief geradezu entsetzt an und wusste nicht zu sagen, wie man sie hier gefunden
hatte. Mephala allein wusste, wo sie war und für gewöhnlich nutzte die Morag Tong spezielle
Briefkästen für die Übermittlung von Aufträgen und Nachrichten außerhalb Morrowinds.
Sie beäugte das Siegel auf dem Briefumschlag weiterhin kritisch.
Sera hielt nicht viel von der neumodischen Idee, dass ihre Fürstin nur ein dunkler Aspekt von Fürst
Vivec war, wie es heutzutage im Tempel gelehrt wurde, auch wenn es in diesem Moment passend
erklären mochte, woher er von ihrem Aufenthaltsort wusste.
Doch dann hätte er auch von dem Ausbruch des Roten Berges gewusst als er ihr diesen Traum
sandte, und sie wollte nicht glauben, dass er die Katastrophe so einfach zugelassen hatte.
Sie leckte sich nervös über die Lippen und öffnete mit zitternden Händen den Brief.
Eine solche Zustellung war außergewöhnlich und Unterstrich eine Dringlichkeit und Wichtigkeit für
diesen Auftrag, die ihr in all den Jahrhunderten als Assassine noch nicht untergekommen waren.
Doch wieso kam dieser Auftrag ausgerechnet jetzt? Hatte er etwas mit ihrem Traum zu tun?
Sie zog einen unerwartet kurzen Steckbrief hervor und drehte ihn sofort auf die Rückseite, wo sie
das fein gezeichnete Bild eines Kindes anstarrte.
Mira Yngasdottir aus Thorwig stand als Name und Hinweis darauf. Offenbar eine Nord.
Sera blinzelte verwundert. Das Kind war kaum alt genug, um etwas getan zu haben, das ihre
Ermordung nach Auffassung der Morag Tong rechtschaffen erscheinen ließ.
Illegale Auftragsmorde für Gold waren Sache der dunklen Bruderschaft, doch es kam zweifelsfrei
direkt vom Tribunal. Almalexia und Sotha Sil hatten den Erlass ebenfalls mit ihrem persönlichen
Siegel auf einem weiteren Begleitschreiben abgesegnet. Der Tod der Kleinen schien ihnen
ausgesprochen wichtig zu sein, obwohl sie alle drei nur selten einer einstimmigen Meinung waren.
Die Assassine schritt aufgewühlt mit dem Steckbrief in der Hand durch das Zimmer, bevor ihr Blick
auf den kleinen Schrein ihrer Fürstin fiel, den sie um eine geschnitzte Spinnenfigur aus Holz
errichtet hatte. Sie wollte nicht glauben, dass Mephala die Ermordung eines unschuldigen Kindes
guthieß. Das entsprach nicht den Lehren der Morag Tong.
Sie griff nach dem kostbaren Gebetsschal aus Spinnenseide, der ihr als einziges von ihrem früheren
Leben geblieben war, und versuchte, Antworten im Gebet zu bekommen.
„Große Netzweberin, wieso schenkst du mir diesen Traum? Was willst du mir damit sagen?“ Sie
überlegte, ob dieser Auftrag wirklich etwas damit zu tun hatte.
„Hat dieses Kind einen Anteil an dem, was auf uns zukommt? Ist ihr Tod wirklich dein Wille?“
Doch die daedrische Fürstin blieb wie immer stumm und ließ sie mit einem schrecklichen Gefühl
drohenden Unheils zurück, der dem erlebten Ausbruch des Roten Berges in nichts nachstand.
Diesmal erkannte Sera die Warnung jedoch und wollte alles in ihrer Macht stehende tun, damit sich
etwas ähnlich Grauenvolles nirgendwo auf Tamriel wiederholte.
Selbst die plumpen und grobschlächtigen Nord verdienten es nicht so etwas erleben zu müssen.
Sie wagte allerdings, erste leise Zweifel zu hegen, ob der Tod eines Menschenkindes wirklich der
richtige Weg dafür wäre und etwas an der kommenden Katastrophe ändern würde, selbst wenn sie
sich mit einer Weigerung den Zorn des gesamten Tribunals zuzog.
Die Assassine begann, ihre Sachen zu packen und schob die Entscheidung hierzu auf, bis sie die
Kleine gefunden hatte und besser verstand, was hier vor sich ging.


Mira blickte vom Pferderücken aus zurück auf das kleiner werdende Dorf, welches in den letzten
zehn Jahren ihre gesamte Welt gewesen war, und verspürte einen Kloß im Hals.
Ihre vorherige Freude über den Aufbruch hatte sich bereits beim Abschied von ihren Eltern stark
getrübt, denn sie wusste nicht, wann sie die beiden wiedersehen würde.
Schnell gab sie dem Pferd mit einem Schenkeldruck zu verstehen, dass es zu dem Skalden
aufschließen sollte, bevor sie dem überwältigenden Drang nachgeben konnte, der sie dazu anhielt,
umzukehren.
Die tiefschwarze Stute gehorchte sofort.
Mira hatte gelegentlich schon auf dem Pferd ihres Vaters gesessen, doch eine so weite Strecke, wie
sie nun vor ihr lag, war sie noch nie alleine geritten.
Sie saß jedoch auf dem Rücken eines gutmütigen, wenig schreckhaften Tieres, welches ihr das Dorf
voller Stolz zum Abschied geschenkt hatte, und sich ohne ihr Zutun brav hinter dem Skalden her
bewegte.
Die beiden schlossen wieder zu ihm auf.
„Wie weit ist es bis Winterfeste?“, fragte sie mit einer Spur Sorge über die Entfernung zu ihren
Eltern und etwas Ungeduld, da sie unbedingt die Magierakademie sehen wollte.
„Nur einige Tage, wenn das Wetter nicht umschlägt“, antwortete er mit einem prüfenden Blick in
den Himmel.
Mira wusste selbst, wie unberechenbar die Stürme auch im Sommer hereinbrechen konnten und
hoffte nur, dadurch keine unnötigen Verzögerungen auf ihrer Reise zu haben.
Die Antwort überraschte sie allerdings, da sie angenommen hatte, Winterfeste müsste unendlich weit weg sein.
Der Skalde stimmte nach einiger Entfernung zum Dorf ein heiteres Lied an und vertrieb ihnen die
Zeit mit einigen aufregenden Heldengeschichten.
Bis zum Mittag hatte sie eine Vielzahl der bekanntesten Lieder über Drachen und große
Nordkrieger zu hören bekommen und war ehrfürchtig bewegt, wie viele er davon auswendig kannte
und so wortreich wiedergeben konnte.
Er kannte sogar eine recht ungewöhnliche Ballade über eine große Schlacht, in deren Verlauf ein
rätselhaftes Volk, das unter der Erde lebte und sich Dwemer nannte, einfach für immer
verschwunden sein sollte.
Sie lauschte ihm gebannt, fand die Erzählung aber recht unglaubwürdig. Ein ganzes Volk konnte
doch nicht so einfach verschwinden und sicherlich auch nicht unter der Erde leben.
Sie schüttelte den Kopf.
Als sie schließlich die erste Rast einlegten, nutzte er die Gelegenheit, um ihr etwas mehr über die
Pflanzenwelt beizubringen. Er zeigte ihr die Beispiele direkt in der Natur und wieder staunte sie
über sein großes Wissen, denn es gab keine Pflanze, die er nicht mit Namen und ihren
alchemistischen Eigenschaften benennen konnte. Alles um sie herum schien für einen ganz eigenen Trank geeignet zu sein.
Am Abend legten sie die letzte Rast des Tages ein. Mira ließ sich steif aus dem Sattel helfen und
fragte sich, wie sie den Rest der Reise überstehen sollte, denn sie spürte nach dem langen Ritt nun
schmerzhaft jeden einzelnen Muskel in ihrem Körper.
„Das wird mit der Zeit besser“, versprach ihr der Skalde, doch das Mädchen vermochte ihm das in
diesem Augenblick nicht so recht zu glauben.
Sie schlugen ihr Lager weit abseits der Straße hinter einem Sichtschutz aus Bäumen auf und der
Skalde reichte ihr eine geflochtene Matte, sowie eine Decke.
Als sie begriff, dass er keine Anstalten machte, Holz zu sammeln um ein wärmendes Feuer zu
entzünden, sah sie ihn fragend an.
Es war nicht so, dass sie fror. Als Nord hatte sie eine natürliche Resistenz gegen die Kälte, die im
Sommer ohnehin nicht so beißend war wie im Winter, doch der kalte Braten, den sie zusammen mit dem Brot als Proviant eingepackt hatten, hätte aufgewärmt viel besser geschmeckt. Er sah ihren Blick und wusste anscheinend genau, was ihr durch den Kopf ging.
„Ein offenes Feuer verrät jedem, der Böses im Sinn hat, wo wir unser Lager haben. Aus diesem
Grund bleiben wir auch nicht an der Straße, solange kein Gasthaus in der Nähe ist“, erklärte er.
Sie nickte als sie sein Argument begriff und biss auf ihr kaltes Bratenstück.
Es fiel ihr plötzlich schwer die Augen offen zu halten und innerhalb kürzester Zeit hatten sie die
Strapazen des ersten Reisetages in Form von einer überwältigenden Müdigkeit eingeholt.
Sie ließ sich auf ihr Lager sinken und zog die Decke bis ans Kinn hoch, dann war sie bereits
eingeschlafen und ließ ihren Geist durch ganz andere Reiche wandern.


Sie befand sich erneut an diesem unheimlichen Ort, ohne zu wissen, wie sie überhaupt
hergekommen war.
Ein ewig grünes Dämmerlicht herrschte überall um sie herum und eine Vielzahl tiefschwarzer
Tümpel lag bedrohlich ruhig in ihrer Nähe und lauerte auf unachtsame Beute.
Sie ließ sich davon jedoch nicht täuschen. Nach ihrer ersten Begegnung mit dem Ding, das sich
darin befand, wollte sie ihnen lieber nicht zu nahe kommen.
Das Mädchen sah kurz nach oben. Die unzähligen Augen am Himmel waren diesmal geschlossen
und schienen sie nicht zu sehen, was sie irgendwie beruhigte.
Sie lief weiter durch diese groteske, karge Landschaft, bis sie in der Ferne etwas Seltsames
erblickte, das sofort ihre Neugier weckte. Da es sonst kein lohnendes Ziel zu geben schien, hielt sie
direkt darauf zu.
Ihre Füße verursachten nach einiger Zeit ein plätscherndes Geräusch, als würde sie über Wasser
laufen. Sie sah nach unten und erkannte verwundert, dass sie sich nun am Anfang von einem Steg
befand, der über einen größeren der dunklen Teiche führte und vor einem kunstvoll verzierten Tor
endete, das aussah wie eines der vielarmigen Meeresungeheuer aus den Erzählungen der Fischer.
Die beiden Torflügel bildeten zusammen ein gewaltiges Auge.
Unzählige Bücher formten eine hoch aufgetürmte Mauer, die vom Tor aus zu beiden Seiten
wegführte und diesen ungewöhnlichen Ort eingrenzte.
Für einige Minuten stand sie einfach nur da und traute sich nicht das Wasser zu überqueren, aus
Angst vor dem, was sich darin befand.
Doch als nichts weiter geschah, überwand sie ihre lähmende Furcht und rannte so schnell sie
konnte hinüber. Keuchend blickte sie vom anderen Ende aus noch einmal zurück, um zu sehen ob
etwas ihr gefolgt war, atmete dann jedoch erleichtert auf, als es weiterhin ruhig blieb und sich
nichts Verräterisches im Wasser regte.
Nun konnte sie ihre Aufmerksamkeit ganz diesem seltsamen Eingang widmen.
Aus der Nähe betrachtet sahen das Tor und die ungewöhnliche Mauer aus Büchern noch
gigantischer aus. Nach oben hin schien es keine Grenze zu geben und es kam ihr unwirklich vor,
wie diese Wand es schaffte nicht einzustürzen.
Sie schluckte und spähte vorsichtig durch eine Lücke zwischen zwei der kunstvoll geformten
Tentakel am Tor hinein.
Mira sah einen langen Pfad, der aus einzelnen Buchseiten und hingeworfenen Papieren bestand
und sich zwischen weiteren dicken Bücherwänden hindurchschlängelte, bis er um eine dunkle Ecke
verschwand, der ihr Blick nicht mehr folgen konnte.
Ihre Hand griff zögerlich nach dem Tor. Fast hoffte sie, es wäre verschlossen oder zu schwer zum
Öffnen, doch es war unerwartet leicht und ließ sich ohne Schwierigkeiten aufschieben. Vorsichtig
schlüpfte Mira durch die entstandene Öffnung.
Sie folgte dem seltsamen Pfad, der unter ihren Sohlen ein knisterndes Geräusch verursachte,
während sie eine Hand über die Bücherwand gleiten ließ und sich an der ersten Abzweigung für
einen Weg entscheiden musste.
Sie hob den Kopf und blieb erstaunt stehen. Über ihr schwebten weitere Pfade aus losen Seiten
einfach in der Luft und kreuzten ihren Weg als wären es weitere Stockwerke dieses ungewöhnlichen
Hauses.
Wie man wohl dort hinaufkommt?, fragte sie sich kurz und ging weiter.
Nach weiteren verwinkelten Gängen und unzähligen Abzweigungen, denen sie folgte, hatte sie
bereits das Gefühl nie wieder den Ausgang finden zu können und ihr Herz begann bei dem
fürchterlichen Gedanken beunruhigt höher zu schlagen.
Ein unheimliches Geräusch zu ihrer Linken ließ sie augenblicklich in der Bewegung erstarren.
Es klang wie ein seltsames Schlurfen und musste seinen Ursprung direkt hinter einem der
nahegelegenen Bücherstapel haben.
Vorsichtig zog sie einige der Folianten aus der wild angehäuften Sammlung, um zu sehen was sich
dahinter verbarg.
Als sie das letzte schwere Buch herauszog und durch die Lücke sehen konnte, hätte sie es vor
Schreck fast fallen gelassen. Etwas bewegte sich dort!
Nach dieser kurzen Schrecksekunde, überwog jedoch wieder ihre Neugier und sie schaute noch
einmal genauer hin.
Sie beobachtete durch das Loch ein grauenhaftes Wesen auf Tentakelbeinen dabei, wie es geschäftig zwischen den Stapeln hin und her huschte. Es sah aus wie eine gruselige Mischung aus Tintenfisch und Schabe mit zwei Paar Armen. Ein ekelhaftes Loch klaffte in ihrer Mitte, welches sie an einen Mund erinnerte.
Das Wesen schien die Bücher hier zu sortieren, auch wenn Mira nicht sagen konnte, wie es das
Chaos überblickte, oder ob das Sortieren überhaupt Sinn machte. Es wirkte an diesem Ort auf sie
eher wie eine quälende Strafarbeit.
Leise schlich sie weiter und wollte jetzt schnell wieder hier heraus, bevor ihr noch mehr von diesen
Monstern begegneten.
Nach der nächsten Abzweigung verließ sie jedoch das Glück und sie lief einem von ihnen direkt
über den Weg. Die Kreatur ließ erschrocken die Bücher fallen, die es in den Armen trug, und starrte
sie für einen Augenblick geradezu ungläubig an.
Miras Herz blieb sofort stehen, als es schließlich einen schrillen, unmenschlichen Schrei ausstieß,
der ihr in den Ohren schmerzte.
Der grässliche Laut wurde von anderen dieser Wesen in einiger Entfernung aufgenommen und
verbreitete sich schnell weiter. Es mussten unvorstellbar viele sein.
Neben ihrer unerwarteten Begegnung erschien bereits ein weiteres dieser Monster, das in der Nähe
gewesen sein musste. Auf den schwebenden Pfaden über ihrem Kopf bemerkte sie ebenfalls einen
Schatten und bekam es mit der Angst zu tun. Bald würde es von diesen Kreaturen hier nur so
wimmeln.
Die beiden Wesen vor ihr kamen jedoch nicht näher, sondern starrten sie lediglich zu zweit
neugierig an, als überlegten sie, wie ein Mensch an diesen Ort gelangen konnte.
Trotzdem nahm sie jetzt lieber die Beine in die Hand und rannte Hals über Kopf zurück in die
Richtung in der sie hoffte den Ausgang zu finden, während weitere Alarmrufe diesen Ort belebten
wie einen Bienenstock, in den jemand einen spitzen Ast hineingestochen hatte, um an den Honig zu kommen.
Im Laufen sah sie, wie sich über ihr am grünen Himmel die Augen öffneten und sie mit ihren
Blicken überaus interessiert zu verfolgen schienen, während sie panisch nach einem Ausweg suchte.


Sie erwachte schweißgebadet und brauchte einen Augenblick, um zu erkennen, dass es nur ein böser Traum gewesen war.
Allerdings hatte sie noch nie einen Traum gehabt, der sich so echt angefühlt hatte und das ließ sie mit einem beängstigenden Gefühl und lauter ungeklärten Fragen zurück. Allen voran, was das für ein ungewöhnlicher Ort war und wieso es sie schon zum zweiten Mal dorthin verschlagen hatte. Man konnte doch nicht zweimal denselben Traum haben oder an einen
Vorherigen wieder anknüpfen.
Sie wandte den Kopf zur Seite um zu sehen, ob sie den Skalden geweckt hatte, doch er schlief
seelenruhig weiter und hatte davon anscheinend nichts bemerkt.
Sie überlegte, ob sie ihn danach fragen sollte, schließlich wusste er eine Menge Dinge, doch
irgendwie hatte sie Angst, dass er ihr nicht glauben und sie nicht verstehen würde, wie die anderen
Kinder im Dorf. Sie entschied, es lieber nicht zu tun, bevor sie den einzigen Menschen verlor, der
ihre Magie nicht als etwas Schlechtes ansah und sie sogar in ihrem Gebrauch unterwies.
Mira versuchte daher weiter zu schlafen, doch sie hatte zu große Angst davor, wieder an diesem
unheimlichen Ort zu landen und lag den Rest der Nacht aufgewühlt wach, während ihre Gedanken
um den Traum kreisten.
Eigentlich hatten diese Wesen keinen Versuch unternommen sie anzugreifen, sie schienen ihr selbst eher überrascht gewesen zu sein sie dort anzutreffen, auch wenn sie einfach furchterregend
fremdartig aussahen. Vielleicht hatten sie sogar mehr Angst vor ihr gehabt als umgekehrt, überlegte
sie und konnte sich damit langsam etwas beruhigen.
Mit dem ersten Licht des neuen Tages schob sie ihre Gedanken beiseite.
„Schon wach?“, fragte der Skalde überrascht und erhob sich von seinem Lager. Der Mann schüttelte
den Schlaf mit einer Leichtigkeit ab, die Mira bewunderte.
Er fuhr sich einfach mit der Hand durch den Bart und das Haar und wirkte sofort wieder erfrischt
und zur Weiterreise bereit.
„Ich habe nicht gut geschlafen“, gestand sie ihm. Zum Glück ging er nicht weiter darauf ein, auch
wenn er sie für einen Moment ausgesprochen merkwürdig ansah.
Nach dem Frühstück packten sie ihre Sachen zusammen und brachen zügig auf. Sie hatte den
Eindruck, dass der Nord es plötzlich besonders eilig hatte.
Der Tag verlief genauso wie der Vorherige.
Mira lauschte seinen Geschichten, während ihre Pferde zielstrebig voran trotteten.
Während sie rasteten setzte er seine Lektionen in Kräuterkunde fort und ließ sie nun auch wieder
kurze Schildübungen machen.
„Du brauchst deine Kraft für die Reise“, begründete er den verkürzten Magieunterricht, doch sie
hatte wieder den Eindruck, er wollte jetzt aus irgendeinem Grund schneller vorankommen.
Er zeigte ihr trotzdem noch einige praktische Dinge, die man zum Überleben brauchen konnte. Sie
lernte, wie man eine Schlingenfalle anfertigte, um Hasen zu fangen, und anschließend mit wenigen
Mitteln ein ordentliches Feuer zur Zubereitung zustande bringen konnte.
„Natürlich kannst du es auch mit einem kleinen Blitz entzünden“, erklärte er und demonstrierte es
mit einem kleinen Funken aus seinem Finger, „doch manchmal will man sich nicht gleich als
Magier offenbaren und man sollte sich auch nie allein auf seine Magie verlassen. Es gibt Zauber,
die dich schwächen können, oder ganze Bereiche erschaffen, in denen Magie nicht wirkt.“
Mira erfuhr von ihm, dass man solche Bereiche Negationsfelder nannte und für Magier, die im
Kampf nur auf ihre Kräfte setzten, leicht das Ende bedeuten konnten.
Die Vorstellung fand sie recht beängstigend und zeigte sich nun etwas offener gegenüber den
Lektionen, die nichts mit Magie zu tun hatten.
Sie waren noch fünf weitere Tage auf diese Art unterwegs, ohne von schlechtem Wetter überrascht
zu werden, und erreichten schließlich ihr Ziel.
Mira erblickte einen großen Turm, der sich in der Ferne abzeichnete, und wurde ganz aufgeregt.
Sie folgten einem Weg, der sie sanft von einem kleinen Hügel herunterführte und einen guten Blick
auf die große Stadt ermöglichte.
„Das ist Winterfeste“, erklärte ihr Mentor unnötigerweise und ließ sein Pferd kurz anhalten, als
wollte er nun selbst den beeindruckenden Anblick für einen Moment in sich aufnehmen.
Eine große Anzahl Häuser, deren Kamine nun zur Mittagszeit unzählige Rauchwolken aus ihren
Kochstellen in den Himmel aufsteigen ließen, säumten den Weg.
Der Wind trug eine Vielzahl von Gerüchen nach frisch zubereiteten Fleischgerichten zu ihnen
herüber.
Vom Weg aus führten mehrere Straßen nach rechts ab und endeten alle vor einer eigenen steinernen Brücke, die über eine tief aufgerissene Erdspalte führte, die Winterfeste auf natürliche Art in zwei Hälften teilte.
Der Anblick machte ihr irgendwie Angst und sie hatte kurz die absurde Vorstellung,
der rechte Teil der bebauten Steilküste könnte einfach abbrechen und in den Abgrund stürzen. Sie
schüttelte den bedrohlichen Gedanken als unsinnig ab und folgte mit ihrem Blick wieder dem
Verlauf der Straße.
Die mittlere der fünf Brücken führte als einziger Aufgang zu dem festungsgleichen Gebäude mit
dem einschüchternden Turm. Ein stark gesichertes Eisentor versperrte ungebetenen Besuchern den
Zugang. Mira sah das magische blaue Leuchten, das davon ausging, und verspürte sogar auf die
Entfernung ein kribbelndes Gefühl, wie sie es bereits von der ausgeübten Magie ihres Schildes
kannte. Das hier musste jedoch ein weitaus machtvollerer Zauber sein.
„Das ist die Akademie“, offenbarte ihr der Skalde und trieb sein Pferd wieder voran.
Zu beiden Seiten der Akademie standen weitere Häuser dichtgedrängt auf der gefährlich
anmutenden Seite der hohen Küste und teilten die Stadt in zwei weitere Gebiete.
Einige Gebäude waren mehrstöckig und übertrumpften damit sogar den Wall, sodass man von dort
aus einen guten Blick auf das Meer haben musste.
„Rechts neben der Akademie liegt das Viertel der Dunkelelfen“, erläuterte ihr Lehrmeister was sie
gerade sah, als hätte er ihre Gedanken gelesen.
Mira betrachtete noch einmal die Vielzahl an Häusern und dachte voller Vorfreude daran, hier ihren
ersten Elfen zu begegnen. Die Häuser sahen tatsächlich sogar ein wenig fremdartiger aus, fand sie.
Sie staunte jetzt eingeschüchtert, denn sie hatte noch nie so viele Häuser und Menschen an einem
Ort versammelt gesehen. Überall entdeckte sie Bewegung auf den Straßen, es wimmelte wie auf
einem Ameisenhügel.
Im linken Stadtviertel entdeckte sie ein Langhaus, das ihr von der Größe und Lage her für das Heim
eines Jarls angemessen zu sein schien.
Ihr Blick blieb nicht weit entfernt an einer überragend großen Statue hängen, die eine kriegerisch
anmutende Frau in Rüstung und mit erhobenem Schwert darstellte. Sie befand sich mitten im
Zentrum auf einem großen Platz, dahinter stand ein genauso großes und prächtiges Rundhaus.
„Was ist das für ein Haus in der Mitte?“, fragte sie neugierig und erhielt sofort eine Antwort, ohne
dass der Skalde ihrem Blick folgen musste.
„Das ist der hiesige Tempel für unsere Herrin Kyne. Er ist einer der größten in Himmelsrand. Hier
leben neben den vielen Magiern auch am meisten geweihte Krieger der Göttin. Etwas entfernt
hinter der Akademie findest du den zugehörigen Himmelstempel. Er ist eine heilige Pilgerstätte.“
Als keine weitere Erklärung folgte, schaute sie sich wieder um und nahm alles an Eindrücken in
sich auf.
Eine starke Mauer aus Stein führte einmal um alle Gebäude auf der ganzen Küstenseite herum und
bot den Bewohnern Schutz vor dem Geistermeer, das bei stürmischem Wetter hohe Wellen schlug,
die sich vorher nicht woanders brechen konnten.
Mira sah ehrfürchtig auf das einschüchternde Meer, das sich vor ihren Augen scheinbar in die
Unendlichkeit erstreckte, nun jedoch vollkommen ruhig und geradezu harmlos vor ihr lag.
Das Wetter war nach wie vor klar und sie glaubte einen leichten Schemen in der Ferne zu erkennen.
Vielleicht war das der berüchtigte Rote Berg, von dem ihr Lehrmeister gesprochen hatte.
Auf dem Wasser lagen unzählige große Schiffe im Hafen vor Anker, deren Fracht mit Ochsenkarren
einen beschwerlichen Weg die Küste hinauf geschafft und in die Stadt gebracht wurde. Der Weg
kreuzte ihre Straße einige Meter vor dem Eingang.
Sie folgten dem Hügel weiter hinab, überholten dabei einige der langsameren Fuhrwerke, und
hatten die ersten Ausläufer Winterfestes schließlich erreicht.
Verblüfft stellte Mira fest, dass es landeinwärts keinen Schutzwall um die Stadt herum gab, sondern
lediglich zwei kleine hölzerne Wachtürme, die den Weg flankierten und den Beginn der Stadt
markierten.
Vermutlich fühlten die Bewohner sich im Schatten der vielen mächtigen Magier und Kampfpriester,
die ihre Stadt beschützen konnten, einfach sicher.
Die vier Wachen auf den Türmen sahen ihnen gelangweilt von oben hinterher, machten jedoch
keine Anstalten, sie aufzuhalten.
Mira blickte nach vorn und schluckte bei dem ungewohnten Trubel, der ihr von dort
entgegenschlug. Die Straße war unglaublich belebt und laute Stimmen riefen in einem wilden
Gewirr durcheinander, das es schwer machte, etwas Genaueres verstehen zu können.
Obwohl ihr Mentor seine prächtige Rüstung unter seinem weiten Fellmantel verborgen hielt,
blieben bereits nach den ersten Metern einige Menschen stehen und grüßten sie im Vorbeireiten
freundlich, da sie ihn erkannten.
Mira sah, wie immer mehr neugierige Bewohner sich versammelten als ihre Ankunft die Runde
machte, und wunderte sich darüber, schließlich waren die Kynepriester hier sicher kein
ungewohnter Anblick.
Sie bahnten sich ihren Weg durch die unerwartet große Menge, die jedoch geradezu ehrfürchtig
Platz machte.
Einige Kinder deuteten mit dem Finger auf sie und tuschelten. Der Anblick weckte schmerzhafte
Erinnerungen, doch Mira glaubte nicht, dass sie hier so abfällig über sie lästerten, wie die Kinder in
ihrem Heimatdorf.
Etwas abseits entdeckte sie eine Gruppe von Dunkelelfen, die sich offenbar nicht an dem Trubel
beteiligten, ihnen jedoch deswegen nicht weniger neugierige Blicke zuwarfen.
Mira starrte ihre ungewöhnliche blau und grau gefärbte Haut gebannt an, bis es schon als unhöflich
anzusehen war. Dennoch konnte sie den Blick nicht abwenden, der nun von ihren spitzen Ohren
gefesselt wurde. Zum Schluss bemerkte sie noch die ungewöhnliche Kleidung, die sie nicht näher
beschreiben konnte, aber eindeutig nicht nordisch war.
Vor ihnen auf der Straße erschienen Reiter, die über eine der Brücken aus dem linken Stadtteil
kamen und genau auf sie zuhielten. Als ihr Mentor den Mann mit seinen vier berittenen Wachen in
Uniform erkannte, verzog er den Mund.
„Scheint, als käme das Unangenehme zuerst“, flüsterte er leise in ihre Richtung und wartete bis die
Männer zu ihnen aufgeschlossen hatten.
„Willkommen zurück, Sturmfürst“, begrüßte ihn der Mann in einem Tonfall, der vermuten ließ, dass
die beiden sich gut kannten.
Mira wunderte sich über diese ungewöhnliche Anrede, während sie den Neuankömmling verstohlen
musterte. Er trug recht fremdländisch geschnittene Kleidung, die für das kalte Klima etwas
unpassend wirkte und in allerlei bunten Farben glänzte. Sie fragte sich neugierig, was das wohl für
ein feiner, schimmernder Stoff war.
Die Männer in seinem Gefolge hingegen waren anhand ihrer einheitlichen Uniform eindeutig als
Stadtwachen zu erkennen. Sie trugen stabile Eisenrüstungen, die mit Leder ausgekleidet waren,
dazu einen spitz zulaufenden Helm auf dem Kopf, Schwerter an der Seite und ein breites
Holzschild, das auf den Rücken geschnallt war.
Es ähnelte der Rüstung, die ihr Vater im Dienst trug, nur hatte er für ihr kleines Dorf kein Wappen
auf der rechten Seite seiner Kleidung eingraviert. Für die Soldaten von Winterfeste prangte an der
Stelle eine Miniaturdarstellung der Stadt mit dem Turm der Magierakademie in der Mitte, der als
erkennbares Wahrzeichen diente. Zumindest sah die Darstellung einer dreizackigen Krone mit
großem Mittelzacken für sie so aus wie der Blick auf die Akademie und die beiden nebendran
liegenden Viertel.
„Vogt Aswala“, erwiderte ihr Mentor höflich, doch ein wenig kühl. Sie hatte das Gefühl, die beiden
mochten sich nicht.
„Ihr hättet nicht persönlich kommen müssen, um mich zu begrüßen. Ihr habt sicher besseres mit
Eurer wertvollen Zeit anzufangen.“ Es klang leicht spöttisch und der Mann vor ihnen verzog als
Reaktion ärgerlich das Gesicht. Der Skalde hatte genau ins Schwarze damit getroffen, dass der
hochrangige Mann verärgert darüber war, den Laufburschen spielen zu müssen.
„Das habe ich in der Tat. Jarl Hedda bestand jedoch darauf, dass ich Euch persönlich abpasse und
gleich zu ihr bringe, bevor Ihr den Tempel aufsucht und vereinnahmt werdet. Damit Ihr nicht wieder
denkt, es wäre nur eine freundliche Bitte und sie noch einmal tagelang warten lasst.“
Der Skalde lachte.
„Das geschah in all den Jahren, die ich ihr zur Seite stehe, nur einmal und hatte durchaus wichtige
Gründe, wie sie weiß.“ Er strich sich über den Bart.
„Vermutlich fand sie es eher notwendig, Euch wieder einmal in Eure Schranken zu weisen und ein
wenig mehr Dankbarkeit für Eure gehobene Position zu zeigen.“
Er schmunzelte überlegen, als das Gesicht des Vogts rot anlief. Ohne ein weiteres Wort wandte der
Verwalter sein Pferd um und ließ seine Gäste mit einem Wink seiner Hand von der Eskorte
umringen.
Mira ritt unbehaglich neben dem Skalden her und fragte sich, was wohl zwischen den beiden
vorgefallen war. Da er ihr das sicher nicht gleich erzählen würde, stellte sie lieber eine
unverfänglichere Frage, die sie beschäftigte.
„Wieso nannte er Euch Sturmfürst?“, fragte sie leise und mit deutlicher Verwirrung über die
vorherige Anrede.
„Das ist ein besonderer Titel, der jene Priester der Sturmgöttin auszeichnet, die zugleich ihr wildes
Element beherrschen. Das kommt nicht allzu oft vor, daher sind wir selbst unter den anderen
Priestern hoch angesehen“, erklärte er ihr.
Sie verstand nicht ganz, wieso die Menschen hier so einen Unterschied zwischen Magiern machten,
die zugleich als Krieger im Dienste der Göttin standen, und allen anderen Magiern, die sie für ihre
Kunst verachteten.
„Man muss nur die Rolle gut spielen und ihre Erwartungen erfüllen, dann sehen sie über den
vermeintlichen Makel hinweg. Je weniger du in ihrer Gegenwart zauberst, desto besser. Außer es
sind Sturmzauber, denn das erwarten sie von einem Anhänger der Sturmgöttin“, erläuterte er ihr das ganze Geheimnis. Vermutlich wusste der Großteil der Leute hier nicht einmal, dass er in Wahrheit ein Magier war. Bei seinem Besuch in ihrem Dorf hatte auch keiner etwas anderes in ihm vermutet, als einen der verehrten Streiter Kynes. Langsam verstand sie.
„Sie müssen dich zuallererst als Kriegerin wahrnehmen. Das heißt aber nicht, dass du die anderen
Zauber und Disziplinen deswegen nicht auch lernen und beherrschen solltest. Im Wissen liegt große Macht, merk dir das. Nur werden wir das nicht auf dem herkömmlichen Weg erlangen, sondern ein wenig diskreter dabei sein.“
Sie blickte nachdenklich zu dem großen Turm.
„Dann werde ich nicht an der Akademie lernen?“, fragte sie fast enttäuscht.
„Das habe ich nicht gesagt. Aber zuerst muss ich dich als von Kyne gesegnet im Tempel einführen,
danach kann ich die Akademie bitten, dich neben deinem Kampftraining ebenfalls zu unterweisen.
Glaube mir, es lohnt sich, auch wenn diese Doppelausbildung hart wird.“
Mira nickte erleichtert darüber, doch an die Akademie zu können.
Er hatte schon einmal versucht, ihr das zu erklären, als sie darüber sprachen, wie er ihren Vater
überzeugen wollte, sie von ihm unterrichten zu lassen, doch erst jetzt begriff sie wirklich, was sie für
Vorteile aus dieser Tarnung ziehen konnte.
Sie wollte auch lieber die ehrfürchtigen Blicke der Leute auf sich spüren, wie bei ihrer Ankunft hier,
als noch einmal die Verachtung zu erfahren, die sie in ihrem Dorf kennengelernt hatte, weil sie dort
bereits jeder als Magierin kannte.
Ihr Gesicht nahm einen begeisterten Ausdruck an.
Sie würde wirklich eine mächtige Nord-Magierin werden und alle übertrumpfen können, wenn sie
nach Hause zurückkehrte. Irgendwie freute sie sich auf diese kommende Genugtuung und folgte
ihrem Mentor nun, mit einer befriedigenden Vorstellung an ihre Rückkehr, zu dem Haus der Jarl.


Sera drückte dem wartenden Stallburschen einige Münzen in die Hand und wählte von den
bereitstehenden Mietpferden der Stadt eine braune Stute aus, die ihr für die lange Suche nach dem
Kind ausdauernd genug erschien.
Das Tier hatte das dreizackige Wappen Winterfestes auf der linken Hinterseite eingebrannt und
würde bei Verlust jedem einen Finderlohn einbringen, der es in seinen angestammten Stall
zurückbrachte – oder falls dieser zu weit entfernt war – in einer anderen Ortschaft den Wachen
übergab, die für seine Rückführung sorgten. Es gab sogar Vereinbarungen zwischen den Jarltümern,
wodurch es keine Rolle spielte, wo ein Reiter sein gemietetes Tier wieder abgab, wenn er sein Ziel
erreicht hatte.
Dieses ausgeklügelte System, das trotz ihrer Spannungen untereinander erstaunlich gut
funktionierte, war eines der Dinge, mit denen die raubeinigen Nord sie nach ihrer Ankunft in
Himmelsrand ehrlich überrascht hatten.
Natürlichen nutzten die Dunkelelfen ebenfalls Pferde, doch bei ihnen nahm man für weite Strecken
einfach einen wesentlich schnelleren Schlickschreiter, der die Ortschaften in einem Mephala
gefälligen Netz miteinander verband und auf seinen langen Stelzenbeinen mehrmals am Tag
zuverlässig seine Ziele anlief.
Sera hatte von einigen Neuankömmlingen der letzten Jahre jedoch gehört, dass diese Tiere seit dem Ausbruch des Roten Berges seltener geworden waren und ihre Aufzucht immer schwieriger wurde, da sie kaum noch Eier legten. Den Grund dafür kannte jedoch nur Mephala allein.
Sie schüttelte den schmerzlichen Abstecher in ihr altes Leben ab und konzentrierte sich wieder auf
ihre Aufgabe.
Sie wusste aus Erfahrung, dass es äußerst schwierig war, jemanden ausfindig zu machen, dessen
Dorf zu klein war, um überhaupt auf den gängigen Karten verzeichnet zu sein.
Leider schien Thorwig genau so ein Dorf zu sein.
Sie hatte sich in den letzten Tagen überall in der Stadt umgehört, doch niemand hatte ihr sagen
können, wo es lag.
Womöglich gehört es einfach nur nicht zu diesem Jarltum, überlegte sie. Die meisten Nord scherten
sich nicht um das, was zu weit von ihnen entfernt lag.
In den anderen Hauptstädten der Jarltümer hatte sie möglicherweise mehr Glück und es fand sich
jemand, der das Dorf kannte.
Allerdings waren die Nord außerhalb Winterfestes nicht an den Anblick von Dunkelelfen gewöhnt
und noch abweisender als die Menschen hier, die sich mittlerweile mit ihren langjährigen Nachbarn
abgefunden hatten.
Die Dunmer seufzte und erkannte, was für eine schwere Aufgabe es sein würde, die Kleine zu
finden. Mit etwas Pech konnte es Jahre dauern und das Mädchen sich so stark verändern, dass sie
das Kind nicht mehr erkannte, selbst wenn sie direkt vor ihr stand.
Dennoch war Sera zuversichtlich, sie letzten Endes zu finden, wenn es Mephalas Wille war, das
drohende Unheil abzuwenden.
Sie nahm das gesattelte Pferd bei den Zügeln und führte es hinaus.
Mit einem eleganten Schwung saß sie auf und lenkte es über die Straße in Richtung des südlichen
Ausgangs, wo unterhalb der Stadt auch der große Hafen lag.
Irgendwo vor ihr an den südlichen Wachtürmen entstand ein Tumult und immer mehr Menschen
strömten an ihr vorbei um sich das anzusehen.
Sie blieb stehen und überlegte.
Sie hatte keine große Lust sich ihren Weg durch eine Massenschlägerei zu bahnen, welche es bei
diesem trinkfesten Volk häufiger gab.
Die Dunkelelfe hatte noch nie verstanden, wie man sich wegen Nichtigkeiten so in die Haare
kriegen konnte, sich prügelte, anschließend vertrug, und den nächsten Humpen auf die neu
gewonnene Freundschaft hob, als wäre nichts geschehen.
„Nord“, murmelte sie verständnislos und rollte mit den Augen, während sie das Tier wendete und es
lieber zum nordwestlichen Ausgang traben ließ.
Von rechts erschienen fünf Reiter aus dem Menschenviertel, vier von ihnen bewaffnet, der fünfte
wohl ein Magistrat, der sich den Tumult ansehen und für Ordnung sorgen wollte.
Sera machte ihnen Platz, um nicht aufzufallen, und hielt weiter auf die nordwestlichen Wachtürme
zu. Sie beschloss, sich zunächst westlich zu halten und das angrenzende Fürstentum Pale aufzusuchen.
In der küstennahen Hauptstadt Dämmerstern gab es ihres Wissens nach wenigstens noch einige
kleinere Dunkelelfengemeinschaften, bevor es landeinwärts schwerer wurde, etwas zu erfahren.
Sie hielt sich auf der ungepflasterten Straße, die an der Küste entlang führte, und sah mit
wachsender Sorge auf das Meer zu ihrer Rechten.
Der schreckliche Traum war immer noch recht frisch in ihrer Erinnerung, doch es gab nichts, was
sie tun konnte, außer auf Mephalas Weisheit zu vertrauen. Ihre Fürstin würde all die vielen
Dunkelelfen in Winterfeste sicher nicht ihrem Schicksal überlassen.
Mit einem Schenkeldruck trieb sie ihr Pferd zur Eile an und war froh, diesmal etwas zu ihrer
Rettung beitragen zu können. Sie musste nur dieses Kind finden.


„Was tust du da?“
Jolf schaute Leif ungläubig über die Schulter, während dieser ein kleines Buch mit einem dünnen
Kohlestift aus der Hosentasche zog und begann, etwas hineinzuschreiben.
Der Junge wusste, dass einer der Lehrmeister seines Freundes ihn dazu ermutigt hatte, ein Tagebuch zu führen, um seine Schreibkünste zu verbessern und es daher immer bei sich trug, doch den Zeitpunkt dafür fand er gerade ausgesprochen unpassend.
Sie hatten die verfluchte Ruine auf ihrer wilden Flucht erst knapp hinter sich gelassen und eine
kurze Rast eingelegt, um wieder zu Atem zu kommen.
Von dem verhängnisvollen Sturm, der sie gezwungen hatte, in dem Grab Zuflucht zu suchen, war
nichts mehr zu sehen. Das Wetter hatte ausgesprochen schnell umgeschlagen.
Leif hatte sich stehend an einen Baum gelehnt und blickte kurz in die Richtung zurück, in der das
Grab nur noch als entfernte Ruine sichtbar war, bevor er ihm antwortete.
„Ich will alles festhalten, was mit dem Schrein zu tun hat, so lange es noch frisch in meinem
Gedächtnis ist. Vielleicht kann ich später mehr darüber herausfinden, wieso unsere Ahnen ihn mit
einem Grab überbauten und danach niemand mehr davon gehört hat. Wir können schließlich nichts
Hilfreiches für unsere Rettung finden, wenn wir die Geschichte dieses Ortes nicht kennen.“
Ystgrav, notierte er daraufhin den Namen der Grabstätte und versuchte, sich an die gezeichnete
Geschichte auf den Wänden und Säulen zu erinnern.
Jolf brummte widerwillig, denn er hätte lieber erst noch etwas mehr Abstand zwischen sich und
diesen schrecklichen Ort gebracht. Der Beweggrund seines klugen Gefährten klang jedoch
einleuchtend, daher sah er still dabei zu, wie sein Freund nach einigen weiteren Notizen – und einer
detailgetreuen Zeichnung des hässlichen Käferwesens – ein Bild von Tjalfs neuer Gestalt zeichnete.
Sie sah furchtbar aus, auch wenn die Abbildung zum Glück viel von dem Schrecken vermissen ließ,
den er bei der Begegnung verspürt hatte.
„Wie sollen wir sein Verschwinden erklären?“, fragte Jolf auf den Gedanken hin elend, während er
mit den Augen weiter den Bewegungen des Stiftes folgte, der feine schwarze Striche hinterließ, die
das Bild langsam vervollständigten. Sein Freund konnte wirklich gut zeichnen.
„Man hat uns zusammen aufbrechen sehen“, sprach er offen aus, was ihn daran so besorgte.
„Wir haben ihn im Sturm verloren und nicht wiedergefunden?“, schlug Leif sofort vor, ohne seine
Arbeit zu unterbrechen, da er sich auf dem Weg ebenfalls bereits seine Gedanken dazu gemacht
hatte. Auf keinen Fall durften sie den Schrein erwähnen, sonst liefen andere ebenfalls Gefahr, dem
daedrischen Fürsten in die Falle zu gehen, oder sie kamen um das Heiligtum zu zerstören, was nur
gelingen konnte, wenn sie den neuen Wächter dabei töteten.
Kurz kam ihm der schauderhafte Gedanke, dass der daedrische Fürst Tjalf womöglich nur
verwandelt hatte, um sie beide davon abzuhalten, es jemandem zu erzählen.
Sein Gefährte überdachte den Vorschlag mit einem unglücklichen Gesichtsausdruck.
„Dann werden sie nach ihm suchen und das Grab finden.“
Leif beendete seinen Eintrag, ließ das kleine Buch wieder in der Hosentasche verschwinden und
nahm die erkämpfte Gabe des daedrischen Fürsten zur Hand. Das Buch war nicht besonders dick
und sehr leicht. Sein Einband schien aus dunklen Schatten zu bestehen, die sich unablässig zu
kleinen, abstehenden Tentakeln formten und dann wieder auflösten. Der Anblick jagte ihm einen
Schauer über den Rücken.
„Wir haben ursprünglich doch behauptet, ganz woanders hin zu wollen. Dort können sie lange nach
ihm suchen, ohne etwas zu finden und Tjalf zu schaden.“
Er schlug das unheimliche Buch auf und staunte nicht schlecht, als die Buchstaben darin einfach
über die Seiten liefen wie kleine Insekten und sich ständig neu positionierten.
Seine Augen verfolgten sie eine Weile und er kam zu dem überraschenden Schluss, dass jede Zeile
in sich selbst ein ganzes Werk darstellen musste, welches unablässig durchlief.
Ehrfürchtig betrachtete er das unglaubliche Werk, dem eine unbekannte Magie innewohnte.
Es barg damit von innen viel mehr Wissen und Inhalt, als es von außen den Anschein hatte.
Womöglich eine ganze Bibliothek.
Es vollständig zu lesen, würde Jahre dauern, falls es überhaupt in einer einzigen Lebensspanne
gelingen konnte. Er überlegte kurz bestürzt, ob ihn der Fürst damit hereingelegt hatte, da er niemals
alle Geheimnisse erfahren würde, die darin verborgen waren.
Jolf beäugte seinen Freund und das abstoßende Buch währenddessen kritisch.
„Und wenn sie ihn dort nicht finden, werden sie glauben, dass er tot ist“, führte der Junge den
Vorschlag seines Freundes nachdenklich weiter aus, während dieser in seine Lektüre vertieft war
und kaum noch zuzuhören schien.
Jolfs Stimme zitterte, als ihm die enorme Tragweite dieser Lüge bewusst wurde.
Seine Mutter stand kurz davor, der neue Jarl von Winterfeste zu werden, sobald sie von ihrem
Familienbesuch in ihrem kleinen Heimatort zurückkehrten. Ein Freund ihres Sohnes, der dabei
verschwand und nicht wiedergefunden wurde, würde trotz aller Bemühungen negativ auf sie
zurückfallen und von ihren Gegnern am Hof dazu genutzt werden, ihre Eignung als zukünftiger Jarl
infrage zu stellen. Einmal ganz davon abgesehen, was sie Tjalfs Familie damit antaten.
Beunruhigt sah er zu Leif, der das unheilige Buch weiterhin fasziniert anstarrte und geradezu
gefesselt wirkte.
„Vielleicht solltest du es nicht lesen. Es könnte böse sein, oder gefährlich“, versuchte er ihn nun
besorgt, davon abzubringen, doch Leif schnaubte nur ablehnend.
„An dem Wissen darin ist sicher nichts Böses. Es kommt nur darauf an, was man damit anfängt.“
Er schlug das Buch trotzdem wieder zu, als wollte er nicht, dass sein Freund ebenfalls hineinsah.
„Aber du hast Recht, wir sollten erst hier verschwinden und das Unangenehme hinter uns bringen.
Danach können wir uns um unsere und Tjalfs Rettung kümmern.“
Er sah noch einmal zurück zu der Ruine, dann steckte er das Buch fast widerwillig in die
Hosentasche, denn er hätte lieber sofort damit begonnen, es zu studieren.
Doch trotz aller Neugier auf das, was er daraus erfahren konnte, hatte er noch immer das
unterschwellige Gefühl, mit diesem Handel einen schwerwiegenden Fehler begangen zu haben, den er bisher nur noch nicht erkennen konnte.
Ihm blieb jedoch vorerst nichts anderes übrig, als abzuwarten und aufmerksam zu bleiben.
Mit diesem düsteren Gedanken im Kopf, folgte Leif seinem Freund zurück ins Dorf und einer
ungewissen Zukunft entgegen.

Teil 6

Mira sah das hässliche Käferwesen hinter einer Biegung verschwinden und schlich unauffällig
hinter ihm in den Weg hinein, aus dem es gerade gekommen war.
Sie war geschickter darin geworden, den Bewohnern dieses Ortes auszuweichen, die sie nun
auch bereits von Weitem an den vertrauten Geräuschen ihrer schlurfenden Fortbewegung
erkannte.
Sie hatte schnell verstanden, dass ihr diese Wesen nicht feindlich gesonnen waren, ihr sogar
absichtlich nützliche Bücher in den Weg legten, nachdem sie sich an sie gewöhnt hatten, und
glaubte mittlerweile sogar, dass sie ihr etwas mitteilen wollten, was sie aufgrund ihrer Gestalt
nicht in Sprache fassen konnten. Allerdings reagierten sie jedes Mal überaus aufgeregt, wenn
sie versuchte, sich dem Herzstück dieses Ortes zu nähern und alarmierten damit ungewollt den
Wächter des Turms. Aus diesem Grund ging sie ihnen auf diesem Pfad lieber aus dem Weg.
In einem dieser Bücher, welches sie ihr gleich zu Anfang gebracht hatten, gab es eine kurze
Beschreibung zu ihnen und anderen seltsamen Kreaturen. Sie lernte, dass man die fleißigen
Bibliothekare hier Sucher nannte und der Wächter ein Blendauge war.
Es hatte dutzende Augen auf einem schwebenden, kugelrunden Körper, aus dem zugleich
unzählige Fangarme wuchsen, mit denen es gemächlich den geheimnisvollen, dunklen Teich
im Zentrum umkreiste und alles im Blick behielt.
Jedes Mal, wenn es sie entdeckt hatte, erwachte sie aus ihrem Traum, als würde sie von ihm
aus diesem fremdartigen Reich hinausgeworfen wie ein unerwünschter Eindringling.
Das war frustrierend und sie hatte sich mit der Zeit und jedem weiteren Fehlversuch
verbissener vorgenommen, ihn irgendwie zu überwinden, um sich den Teich endlich näher
anzusehen. Es gab ansonsten nichts Neues mehr in ihrem Turm zu entdecken.
Sie kannte den Ort mittlerweile in- und auswendig, denn es hatte sie in den letzten sechs
Jahren in so mancher Nacht im Schlaf hier her verschlagen.
Sie hatte sogar einen Aufgang in die höheren Ebenen gefunden, von wo aus sie den
ungewöhnlichen Teich das erste Mal erblickt hatte und beobachten konnte, wie die Sucher
dort ankamen, bevor sie im Turm ihren Aufgaben nachgingen. Sie vermutete darin
mittlerweile ein Portal, das noch woanders hinführen musste, und wollte wissen, woher die
Sucher ursprünglich kamen.
Mira sah kurz nach oben auf die schwebenden Pfade aus losen Seiten und erinnerte sich
daran, wie sie ehrfürchtig auf ihnen bis zur Spitze gewandelt war.
Der Anblick von dort aus war atemberaubend gewesen. Sie hatte in der Ferne unzählige
weitere dieser gewaltigen Büchertürme entdeckt, die hoch hinaus in den grünen Himmel
ragten, und wagte kaum daran zu denken, was sie alles an Wissen beinhalten mussten. Mit
Sicherheit mehr, als man in einem einzigen Menschenleben lernen konnte.
Mira fragte sich bei dem Gedanken kurz, ob die Sucher das wohl alles auch gesammelt hatten
oder nur verwalteten. Sie war hier jedoch noch keinen anderen Wesen begegnet und fand
bisher keine Antwort darauf, obwohl sie in den vergangenen Jahren fast genauso viel Zeit
dafür verwendet hatte, in den Büchern zu lesen, wie diesen Ort zu erkunden.
Sie hatte damit sogar im Schlaf noch viel neues Wissen erlangt, was ihren Lehrern langsam
aufzufallen schien, da sie sogar ihre älteren Mitschüler überholte, die bereits wesentlich
länger an der Akademie studierten.
Sie war froh, Lesen gelernt zu haben und dachte wieder an den enormen Vorsprung, den ihr
diese Bücher verschafften.
Manche waren in fremden Sprachen geschrieben, die sie nicht verstand, manche enthielten
nur uninteressante Dinge, von denen sie sich fragte, wieso man so etwas niederschrieb, und
wieder andere waren voller Magie, welche die Buchstaben über die Seiten tanzen ließ und den
machtvollen Inhalt nur schwer greifbar machten. Doch es gab auch verständlichere Werke
darunter, genau wie jene, die ihr diese Wesen vor die Füße legten. Sie hatte nur noch nicht
genau verstanden, was sie ihr damit mitteilen wollten. In den Werken ging es meistens nur um diesen Ort und seine Bewohner, als wollten sie ihr helfen, sich hier zurecht zu finden oder die Gefahren zu erkennen, wie bei dem Blendauge.
Sie war nicht dumm und hatte ihren Lehrern aufmerksam zugehört.
Es gab andere Ebenen im Reich des Vergessens, die den deadrischen Fürsten gehörten.
Gefährliche Ebenen voller tödlicher Daedra und anderer Gefahren.
Besonders der Skalde wusste so unglaublich viel darüber zu erzählen und legte aus
irgendeinem Grund sehr viel Wert darauf, seine spannenden Geschichten immer wieder in
seinen Unterricht einfließen zu lassen.
Sie hatte Dank seiner Erzählung über den atmorischen Jäger und den Beschreibungen aus den
Büchern der Sucher bereits einen beängstigenden Verdacht, wessen Reich das hier war und
hörte dabei die eindringliche Warnung ihres Lehrmeisters, sich niemals auf einen Handel mit
dem Herrscher dieses Reiches einzulassen, denn er würde versuchen, sie dabei auf
schreckliche und unheilvolle Weise zu hintergehen.
Der Skalde hatte diese Warnung in den letzten Jahren immer wieder erneuert und so oft
hervorgehoben, dass sie ihr stets präsent war, wenn sie sich hier aufhielt.
Doch noch war der daedrische Fürst nicht an sie herangetreten und schien ihre Anwesenheit
einfach zu tolerieren. Zumindest glaubte sie das, wenn seine Augen am Himmel geöffnet
waren, denn dann begnügte er sich damit, sie einfach nur zu beobachten, als wäre er neugierig
darauf, was sie hier tat, oder als überlegte er noch, was er mit ihr anfangen sollte.
Bei manchen ihrer Besuche blieben die Augen allerdings geschlossen und sie hatte eine Weile
gebraucht, um zu erkennen, dass dies immer dann geschah, wenn sie die Nächte in der
Akademie verbrachte, um am frühen Unterricht teilzunehmen. Womöglich lag es an den
mächtigen Schutzzaubern, die auf diesem Ort lagen. Sie vermochten es anscheinend, ihre
Anwesenheit vor der Aufmerksamkeit des Fürsten zu verbergen.
In diesen Nächten waren auch die Sucher immer ungewöhnlich hilfsbereit und kamen stets
mit neuen Büchern an, als trauten sie sich nicht, dies zu tun, wenn ihr Meister anwesend war.
Mira vermutete dadurch, dass er etwas dagegen haben musste, wenn sie ihr Wissen mit ihr
teilten, oder ihm womöglich missfiel, was sie versuchten ihr mitzuteilen.
Mira hätte nicht gedacht, dass diese Wesen überhaupt so etwas wie Angst empfinden konnten
und wunderte sich darüber. Äußerlich sah man ihnen überhaupt keine Gefühlsregungen an.
Ihre Gesichter wirkten stets ausdruckslos und sie verhielten sich unter dem Blick ihres Herrn
immer wie strebsame Arbeiter, ohne eigenen Geist. Doch das täuschte, wie sie sehen konnte.
Mira erschrak, als sie gedankenversunken plötzlich vor dem großen Teich stand.
Sie hatte über ihren Grübeleien das Blendauge aus dem Blick verloren, das in einen
angrenzenden Gang eingebogen sein musste.
Sie beschloss sofort, einfach ihr Glück zu versuchen, bevor es wiederkam, und rannte zu dem
Teich.
Mira spürte, wie ihre Beine von dunklen Schatten umschlungen wurden, die daraus
emporwuchsen, und wie sie sich bereits in dem Teleport auflöste, als das Blendauge von
seiner kurzen Runde zurückkehrte und mit zischenden Lauten seine Fangarme in ihre
Richtung aufstellte. Sein großes Hauptauge sah sie gefährlich durchdringend an.


„Nein, verdammt!“, schimpfte Mira lautstark darüber, so kurz vor dem Ziel gescheitert zu
sein, bevor ihr klar wurde, wo sie sich gerade befand.
Ein Dutzend Gesichter wandten sich ihr zu und zeigten sich überrascht über ihren Ausbruch.
Nur der Mann weiter vorne, schien wenig erfreut über die Störung zu sein.
Mira liefen die Wangen rot an, als ihr aufging, dass sie diesmal nicht in ihrem Bett lag,
sondern im Unterricht über ihrem Pult eingeschlafen war.
„Du findest also nicht, dass wir einen Ausflug nach Saarthal machen sollten, um bei der
Ausgrabung zu helfen und ein wenig mehr über unsere Geschichte zu lernen?“
Meister Yagrim sah sie mit zusammengekniffenen Augen entrüstet an. Er mochte es gar nicht, wenn man ihn unterbrach, während er zum Leidwesen seiner Schüler immer sehr ausschweifend und einschläfernd zu den Themen in seinem Unterrichtsfach der Magietheorie und Geschichte schwadronierte, bis keiner mehr so genau wusste, worum es eigentlich ging.
Der Nord trug einen langen grauen Bart, der Shalidor, dem Begründer ihrer Akademie, alle
Ehre gemacht hätte, und eine Magierrobe in der blauen Färbung der arkanen Künste.
Seine Gestalt war – wie bei vielen Nord – sehr stämmig und es fiel einem irgendwie schwer,
ihm seine Profession als Magier ernsthaft abzunehmen. Er hätte genauso gut ein Holzfäller
oder Jäger sein können.
Die anderen Schüler kicherten nun und waren froh über diese Unterbrechung seines
langatmigen Vortrages, mit dem er sie auf ihren Ausflug hatte vorbereiten wollen. Er musste
dabei jedoch wieder einmal erstaunlich weit vom eigentlichen Thema abgekommen sein und
Mira glaubte nicht, etwas Wichtiges verpasst zu haben.
Dennoch schüttelte sie peinlich berührt den Kopf. Auf diesen Ausflug freute sie sich schon
sehr lange und wollte auf keinen Fall wegen dieser Geschichte davon ausgeschlossen werden.
„Es tut mir leid, Meister“, gab sie sich kleinlaut und hoffte, den richtigen Ton zu treffen.
Der Magier brummte etwas in seinen Bart und versuchte vergeblich, seinen eigenen Faden
wiederzufinden.
Als es ihm nicht gelang, beschränkte er sich auf ein Räuspern.
„Nun gut, der Unterricht ist für heute beendet. Findet euch morgen früh im Hof ein.“
Die Schüler taten nichts lieber, als seiner Anweisung zu folgen und stürmten erleichtert aus
dem Raum.
Anisa klopfte Mira beim Hinausgehen auf die Schulter und stellte sich an ihre Seite.
„Fürst Vivec und dir sei Dank. Er hätte sicher noch den restlichen Tag darüber geschwafelt,
wie wichtig es ist, warme Unterwäsche einzupacken und einen wasserabweisenden Zauber darüber zu legen.“ Die junge Frau lachte mit einer Spur Verzweiflung in der Stimme.
„Was war denn los? Hast du diese Albträume jetzt auch schon während eines kurzen
Nickerchens? Nicht, dass du die einzige gewesen wärst, die heute bei ihm eingeschlafen ist,
aber zumindest die Auffälligste.“ Die Stimme der Dunkelelfe wurde etwas ernster und klang
zugleich ein wenig besorgt.
Mira wusste, es hatte keinen Sinn, es zu leugnen. Sie teilten sich seit Jahren ein Zimmer, wenn
sie hier an zwei Tagen in der Woche zum Unterricht ging und die Dunmer hatte dadurch schon
oft erlebt, wie sie aus ihren Träumen hochgeschreckt war. Sie nickte daher nur.
Mira mochte die mitfühlende Elfe, die ein ähnliches Schicksal hier her geführt hatte, wie sie
selbst. Soweit sie die verwirrende Erzählung über das ferne und fremdartige Morrowind
verstanden hatte, war Anisa zu ihrem Pech mit ihrer Magiebegabung in das falsche
Fürstenhaus hinein geboren worden. Als eine Verwandte der militärisch veranlagten Redoran
weigerten sich ihre Eltern, sie ihre Magie nutzen zu lassen und erst recht, in das – ihrer
Meinung nach – ehrlose Haus der Telvanni-Zauberfürsten zu gehen, wo sie leicht hätte
aufsteigen und ihre Magie meistern können.
Irgendwann war ihr die unbefriedigende kriegerische Ausbildung zu viel geworden, sie hatte
ihre Sachen gepackt und war eines Nachts einfach weggelaufen.
Allerdings hatte auch sie keine gute Meinung von den mächtigen Telvanni-Magiern, bei
denen man neben seinem magischen Können nur durch Hinterlist und Rücksichtslosigkeit
aufsteigen konnte, und ging daher lieber nach Winterfeste in ein vollkommen fremdes Land
um dort ungezwungen an der berühmten Akademie zu studieren. Viele der Dunkelelfen
empfanden den offenen Austausch von Wissen, der hier praktiziert wurde, offenbar wie eine
Erleichterung. Bei den Telvanni war Wissen Macht, die man nicht gerne teilte. Nicht einmal
mit den eigenen Schülern, von denen man späteren Verrat befürchten musste, weil sie selbst
nach der Position ihrer Meister trachteten.
Die Geschichte verband die beiden Mädchen auf eine Weise, wie Mira es bisher mit keinem
anderen hier erlebt hatte. Außerdem schätzte sie ihre Gespräche, bei denen sie viel über ihre Heimat lernte, wo fünf große Fürstenhäuser miteinander um die Herrschaft rangen und es eine
einheitliche Staatsreligion gab, die als das Tribunal angeblich von drei lebenden Halbgöttern
geführt wurde. Irgendwann wollte sie auch einmal dorthin und sich mit einem
Schlickschreiter nach Vivec bringen lassen.
„Kommst du mit in die Taverne?“ Anisa riss sie mit der Frage unerwartet aus ihren Gedanken.
„Unser lieber Gorim möchte noch einmal versuchen, sich sein Gold von Ri’nna
zurückzuholen. Wird sicher lustig, auch wenn noch niemand die Khajit im Kartenspiel
bezwungen hat.“ Die Elfe lachte amüsiert.
„Dieser Sturkopf hat es noch nicht aufgegeben, ihre Tricks zu durchschauen und diesmal extra
einen Hellsichtzauber vorbereitet.“ Die Khajit war wirklich unanständig gut in dem Spiel,
weshalb viele vermuteten, sie würde betrügen. Doch das konnte ihr bisher keiner nachweisen.
Genauso wenig wie ihre angebliche Verbindung zur Diebesgilde.
Mira musste zugeben, das klang wirklich nach einer Menge Spaß, schüttelte jedoch bedauernd
den Kopf. „Ich kann nicht. Ich habe noch Schwertübungen.“
Ihre Freundin verzog das Gesicht und verstand nicht, wieso sie sich nicht ebenfalls nur auf
ihre magische Ausbildung konzentrierte.
„Dann ein anderes Mal. Es wird ihm heute sicher auch nicht gelingen.“ Die junge Dunkelelfe
winkte einer Gruppe von wartenden Novizen zu, unter der sich auch Gorim befand, und
verabschiedete sich von ihr, bevor sie hinübereilte und sich dem Zug in die Taverne anschloss.
Mira seufzte und verstand langsam, was der Skalde damit meinte, als er ihr sagte, diese
Doppelausbildung wäre hart. Ihr entging auf die Art eine Menge Spaß.
Sie tröstete sich ein wenig damit, dass ihr wenigstens ihre Träume immer in wenig Abenteuer
brachten und war wieder fest entschlossen, an dem Blendauge vorbeizukommen.
Sie konnte in ihren Träumen zwar nichts mitnehmen, doch es ließen sich Zauber wirken.
Vielleicht fand sie später etwas Nützliches im Arcaneum, wo das gesamte Wissen der
Akademie verwahrt und von einem stets unfreundlichen Bibliothekar bewacht wurde.
Sie ging in ihr Zimmer und zog sich für die Schwertübungen um. An der Akademie trug sie
die graue Robe der Schüler, doch im Tempel war für das Kampftraining Kleidung mit etwas
mehr Bewegungsfreiraum und Schutzfunktion angebracht.
Sie überprüfte den Sitz ihrer Lederkluft, die zugleich auch die unangenehmen Treffer mit dem
Übungsschwert abpolstern sollte, und machte sich danach auf den Weg zum Tempel.


Der Rest des Sommers war für die beiden Jungen nur schwer zu ertragen.
Sie mussten Jolfs Mutter, sowie dem neuen Dorfvorsteher und den bestürzten Nachbarn,
mehrfach Rede und Antwort stehen und selbst danach wollte man das erschütternde Unglück
einfach nicht wahrhaben. So etwas geschah einfach nicht in einem so beschaulichen, kleinen
Dorf, wie ihrem.
Die Jungen hielten sich jedoch an ihre Absprache und erwähnten weder den Schrein, noch
etwas anderes, das zum Auffinden ihres verfluchten Freundes hätte führen können.
So lange sie es geheim hielten, bestand immer noch Hoffnung, ihn zu retten, darin waren die
beiden sich einig.
Das Dorf organisierte einen Suchtrupp, während Tjalfs Eltern mit jedem Tag, der ohne ein
Zeichen ihres Sohnes verging, immer verzweifelter wurden.
Doch natürlich konnten sie an der falschen Stelle, zu der Leif und Jolf den Suchtrupp führten,
nichts finden, was ihnen weiterhalf.
Leif bemerkte, wie sein Freund still und mürrisch wurde, was ihm deutlich zeigte, wie sehr
ihn das alles mitnahm. Als ihr Anführer fiel dieses Unglück besonders hart auf ihn zurück und
er musste auch den Tadel seiner Mutter ertragen. Daher war es nun Leif, der das Wort führte,
wenn sie wieder einmal nach den Ereignissen gefragt wurden und diese Lüge immer einfacher
über die Lippen brachte.
Irgendwann brach man die ergebnislose Suche schließlich ab, was die allgemeine Stimmung
im Dorf noch schlechter werden ließ. Man war sich zwar einig, dass die beiden Jungen keine
Schuld traf, denn das Wetter war launisch, doch sie spürten den stummen Vorwurf, ihn
verloren und selbst überlebt zu haben, jeden Tag wie unangenehme Nadelstiche aus den
Blicken der Dorfbewohner sprechen. Zumindest bildeten sie sich das ein.
Doch obwohl sie als einzige die Wahrheit kannten, war auch Leif einfach nur froh, als sie
endlich aufbrachen, um nach Winterfeste zurückzukehren. Länger hätte er das nicht ertragen.
Außerdem wollte er endlich mit dem Studium des Buches anfangen.
Hier war das viel zu gefährlich und er hatte Angst, man könnte sich darüber wundern, wo er
es herhatte, wenn man ihn beim Lesen erwischte, und ihnen ihre sorgfältig zurechtgelegte
Geschichte über den Jagdausflug am Ende doch nicht mehr abnehmen.
Es gab nicht viele Bücher in Thorwig, sah man von der kleinen Sammlung im Haus von Jolfs
Mutter einmal ab, und erst recht kein magisches Werk, wie dieses, das man allein schon an
seinem ungewöhnlich fließenden Schatteneinband als solches erkennen konnte.
Er holte das Buch des daedrischen Fürsten vorsichtig aus seinem Versteck und ließ es
zusammen mit seiner schützenden Lederhülle in seinem Reiserucksack verschwinden, bevor
er zum Dorf zurückkehrte, wo sich alle gerade zum Aufbruch bereit machten.
Er nickte Jolf kurz dezent zu, als er zurückkehrte, zum Zeichen dafür, dass er das Buch geholt
hatte, und schloss sich dem wartenden Tross an.
Außer ihnen begleiteten noch ein gutes Dutzend schwer gerüsteter Wachen die zukünftige Jarl
von Winterfeste.
Man erwartete weniger einen Angriff durch wilde Tiere, als einen möglichen Überfall ihres
verschlagenen Konkurrenten, der dadurch einen allerletzten Versuch unternehmen konnte, ihre
Ernennung noch zu verhindern und seine Tat vagabundierenden Banden in die Schuhe zu
schieben.
Leif hatte am Hof schon die wildesten Spekulationen gehört, die dem Mann eine Verbindung
zu dem Fürstenhaus Telvanni nachsagten, das angeblich die Politik der nächsten Jahre in
Winterfeste mitgestalten wollte, weil sie sich von seiner Ernennung gewaltige Vorteile für
zukünftige Handelsbeziehungen erhofften und damit gegen das konkurrierende Haus Hlaalu
die Oberhand erringen wollten, denen Jolfs Mutter als verlässliche Handelspartner lieber den
Vorzug gab.
Wie er von seinem Freund wusste, gefiel ihr die Vorstellung nicht, Geschäfte mit diesen
Sklavenhaltern zu machen und wollte ihnen – und auch dem Sklavenhandel – in Winterfeste
keinesfalls gestatten, Fuß zu fassen. Haus Hlaalu bestand aus ehrlichen Händlern, war als
einziges der dunmerischen Fürstenhäuser weltoffen und lehnte Sklaverei sogar
weitestgehend ab.
Leif fand allerdings, dass man gar nicht so weit in die Ferne schauen musste, um nach
möglichen Feinden der neuen Jarl zu suchen.
Es reichte bereits, über die Grenze ihres Nachbarn nach Ostmarsch zu blicken. Der dortige
Jarl war genauso wenig ein Freund von den angestrebten Veränderungen, die Jolfs Mutter
vorschwebten. Sie wollte den Hafen und damit den Handel nach Morrowind weiter ausbauen,
womit sie in direkte Konkurrenz zu ihm trat, der sich mit dem Fürstenhaus Redoran gut
gestellt hatte und gewinnbringende Handelswege unterhielt. Und natürlich war es ihm ein
Dorn im Auge, dass sie dafür zugleich ihre Kriegsflotte vergrößern wollte und ihm damit auch
die westlichen Wasserwege nach Himmelsrand versperren konnte, wenn er nicht bereit war,
die Gebühren für die Durchfahrt zu bezahlen.
Vermutlich hatte er daher ein geheimes Abkommen mit dem einzigen, ernstzunehmenden
Konkurrenten der Jarl geschlossen. Wenn ihr etwas passierte, würde dieser mit Sicherheit der
nächste Jarl werden und sich das Bündnis für beide auszahlen.
Leif war sich nur nicht sicher, ob er wirklich so weit gehen würde, sie hier anzugreifen.
Verblüfft stellte er fest, wie gut er diese Zusammenhänge durchschaute, seit er von dem
Hofzauberer Privatunterricht bekam, um seine Magie zu meistern.
Man bekam bei ihm viel mehr mit, als im Tempel oder der Akademie, obwohl es dort auch
sehr gebildete Lehrmeister gab. Sie kümmerten sich allerdings nur wenig um Politik, da es
ihnen im Grunde egal war, wer auf dem Thron saß, solange derjenige Kyne die nötige Achtung
entgegenbrachte und die Magier nicht behelligte.
Leif fand das Wissen um die Beziehungen der Jarltümer und darüber hinaus allerdings
ziemlich spannend und hörte dem weltmännischen Magier gerne zu. Der Mann war ein
Fremdländer, ein Rothwardone, der beeindruckend viel herumgekommen war und schon an
ganz unterschiedlichen Höfen gedient hatte, bis es ihn mit seiner Familie nach Winterfeste
verschlagen hatte, weil der Ruf der Akademie ihn fasziniert hatte.
Böse Zungen behaupteten allerdings, er hätte aus seiner Heimat fliehen müssen, weil man ihn
dort für einen gefährlichen Nekromanten hielt, der ihre verehrten Ahnen entweihte, doch Leif
hatte für diese Anschuldigungen bisher noch keinerlei Beweise gesehen, obwohl er ihm näher
stand, als alle anderen. Er tat das als üble Nachrede ab, denn er wusste aus eigener
schmerzlicher Erfahrung, dass der Hof voller bösartiger Schlangen war, die versuchten,
einander zu verleumden.
Er dachte dabei voller Abscheu an den gleichaltrigen Sohn seines Meisters, der zur großen
Enttäuschung seines Vaters keinerlei Begabung für Magie besaß und es ihm übel zu nehmen
schien, dass sein Vater sich darum lieber umso mehr Zeit für seinen wissbegierigen Schüler
nahm.
Der hinterhältige Mistkerl hatte sogar kürzlich behauptet, er hätte Meister Shadir Aswala
bestohlen, nur um ihn loszuwerden, und damit für ziemlichen Aufruhr gesorgt, als man das
magische Artefakt in Leifs Zimmer gefunden hatte. Der gerissene Skeever hatte es ihm vor
seiner Anschuldigung auch noch extra untergeschoben.
Zum Glück hatte niemand, der ihn kannte, auch nur für einen Augenblick ernsthaft geglaubt,
dass er das gewesen war, vor allem nachdem er so heftig seine Unschuld beteuerte, woraufhin
der Tempel empört nach Aufklärung verlangte.
Ein Wahrheitstrank bestätigte schließlich seine Unschuld und Leif forderte wütend, man solle
dem niederträchtigen Verleumder auch einen Trank geben, woraufhin alles herauskam.
Der andere Junge hatte nicht bedacht, was das für Wellen schlagen würde, da er damit auch
den Tempel und Kynes unbescholtene und angesehene Streiter beschuldigte, unehrenhaft zu
handeln. Ein Skandal in den Augen vieler Nord.
Man verzieh es Alik Aswala letztlich jedoch als dummen Jungenstreich und, weil er es als
Fremdländer nicht besser wissen konnte, doch erst nachdem er sich öffentlich beim Tempel
und Leif entschuldigte. Leif vergab ihm das insgeheim allerdings nicht so leicht und war sich
sicher, dass der hinterhältige Junge für diese Demütigung bereits Rachegedanken hegte,
obwohl es seine eigene Schuld gewesen war.
Das war erst wenige Wochen her, weswegen Jolf vorgeschlagen hatte, er solle ihn auf die
Reise nach Thorwig begleiten, damit er sich ablenken konnte und für eine Weile nicht erneut
mit Alik zusammentreffen musste.
„Wenn du weiter so grimmig in die Flammen starrst, könnte das Feuer sich aus Angst dazu
entscheiden, von ganz alleine wieder zu erlöschen.“ Jolf lachte leise und setzte sich zu ihm.
Sie schwiegen sich eine Weile an und hingen ihren eigenen Gedanken nach.
Es war schon der dritte Tag ihrer Reise und sie hatten bereits die Hälfte der Strecke ohne
irgendwelche besonderen Vorkommnisse hinter sich gebracht. Allerdings waren sie nun in
jeder Himmelsrichtung am weitesten von möglicher Hilfe entfernt, daher wäre dies der
bestmögliche Platz für einen Angriff auf sie, dessen waren sich alle hier im Klaren.
Die Anspannung spiegelte sich in der Betriebsamkeit der Wachen deutlich wider.
Jolf spielte mit dem Knauf seiner neuen Waffe, die er unter seinen Reisesachen versteckt hielt,
damit seiner Mutter nicht auffiel, dass er unerklärlicherweise ein neues Schwert besaß. Für
alle anderen mochte es aussehen, wie das Werk eines Schmiedes, der in einem Fischerdorf
groß geworden war und deshalb seiner Vorstellung eines Meeresungeheuers in dem
ungewöhnlichen Griff eine Form verliehen hatte, doch seine Mutter kannte die Waffe ihres
Sohnes und würde sich darüber wundern, denn sie hatte sie ihm selbst zu seinem letzten Namenstag geschenkt. Die Frau war zum Glück jedoch gerade dabei, den Aufbau ihres Nachtlagers zu beaufsichtigen und die Wachen einzuteilen.
„Meinst du, wir müssen mit einem Angriff rechnen?“, fragte Leif seinen Freund beunruhigt
und sah den Wachen dabei zu, wie sie ein großes Zelt für ihre neue Jarl aufbauten.
Jolf folgte seinem Blick.
„Ich wünschte, ich wüsste es“, meinte er leise und Leif hörte deutlich die Sorge aus seiner
Stimme heraus.
Plötzlich versteifte sich sein Freund und starrte wie gebannt in die Flammen. Seine Hand lag
noch immer auf dem Griff des daedrischen Schwertes, während seine Gesichtszüge
angespannt wirkten und auch sein Atem schneller ging.
„Was hast du?“, fragte Leif verwunderte und berührte ihn an der Schulter.
Jolf schien jedoch vollkommen weggetreten zu sein und Leif sah, wie sich seine Hand immer
fester um den Schwertgriff klammerte, bis die Knöchel vor Anstrengung weiß hervortraten.
Der magiebegabte Junge spürte das kribbelnde Gefühl eines wirkenden Zaubers in seiner
Nähe und machte als Ursprung sofort das unheilvolle Schwert aus. Schnell griff er nach Jolfs
Hand, um sie gewaltsam davon zu lösen, da er nicht wusste, welche Auswirkungen der Zauber
auf seinen Freund haben würde, doch damit tauchte er stattdessen nur selbst in den Zauber mit
hinein, der seinen Gefährten in seinem Bann hielt.
Es war, als sähe er alles durch ein trübes, grüngefärbtes Glas. Unwirklich, war das Wort, das
ihm zur Beschreibung als erstes einfiel.
Sie befanden sich weiterhin im Lager, doch es war bereits dunkel geworden und bis auf die
vier abgestellten Wachen an jedem Zugang schliefen alle.
Die beiden Jungen bemerkten eine Bewegung. Etwas blitzte kurz in der Dunkelheit auf und
ein leises, röchelndes Geräusch verklang eine Sekunde später ungehört. Jemand hatte der
Wache am südlichen Zugang ihres Lagers geschickt von hinten die Kehle durchgeschnitten.
Sie sahen schockiert, wie der Körper leblos zu Boden sackte.
Fast zeitgleich erfolgten drei weitere der unheilbringenden Geräusche und auch die anderen
drei Wachen gingen zu Boden, ohne einen warnenden Laut von sich geben zu können.
Leif starrte die schwarz verhüllten Angreifer entsetzt an, welche mit der Dunkelheit regelrecht
zu verschmelzen schienen.
Das waren keine Nord, die sie hier überfielen, sondern überaus gut ausgebildete
Auftragsmörder. Dem schlanken Körperbau nach zu urteilen womöglich Elfen, auch wenn er
das durch die Kapuzen und verhüllten Gesichter nicht ganz zweifelsfrei sagen konnte.
Ihm fielen jedoch sofort eine Vielzahl an Geschichten ein, die er von den Dunkelelfen in
Winterfeste über die Morag Tong und die Dunkle Bruderschaft gehört hatte und war sich
ziemlich sicher, sie mussten es mit solch meisterhaften Attentätern zu tun haben.
Die unfreiwilligen Zuschauer sahen als Bestätigung von Leifs unglaublichem Verdacht, wie
die Angreifer lautlos durch das Lager schlichen und mit erschreckender Präzision von Zelt zu
Zelt huschten, um dort ihre tödliche Kunst auszuüben und die schlafenden Wachen zu
beseitigen.
Die Gestalten sammelten sich kurz vor dem Zelt der Jarl, bevor einer der Meuchler mit
gezückter Klinge ebenfalls lautlos darin verschwand.
Jolf starrte entsetzt auf die blutige Klinge, mit welcher der Attentäter anschließend wieder
herauskam und sie wussten beide, was es schreckliches bedeutete.
Das nächste, was die Jungen sahen, kam Leif merkwürdig vor. Einer der Mörder deutete nun
auf das kleine Zelt, das sie sich anscheinend absichtlich bis zum Schluss aufgehoben hatten.
Jenes Quartier, das Leif sich mit Jolf teilte.
Die Attentäter umstellten es als hätten sie Angst, dass ihnen ihre Beute sonst entkommen
könnte und Leif hatte den absurden Verdacht, der Angriff auf das Lager könnte einzig ihnen
gelten und nicht der Jarl.
Eine der Gestalten, die er durch den vorherigen Fingerzeig für den Anführer der Gruppe hielt,
nickte nun in Richtung des Zeltes und einer seiner Leute verschwand auf den stummen Befehl
hin mit gezogener Waffe darin.
Die beiden Jungen zuckten kurz darauf zusammen, als erneut das röchelnde Geräusch
erklang.
Doch es war nicht der Attentäter, der nach vollendeter Tat aus dem Zelt kam, sondern Jolf.
Sein Blick war ebenso starr und abwesend wie in dem Augenblick, als Leif ihn von dem
Zauber hatte losreißen wollen.
Das daedrische Schwert in seiner Hand war blutverschmiert und strahlte eine fremdartige
Magie aus. Es leuchtete für den jungen Magier in einem sichtbaren, unnatürlich grünen Licht.
Die Meuchelmörder traten vorsichtig einen Schritt zurück und tauschten ihre Klingen gegen
Schwerter, die sie kurzerhand zogen. Sie wirkten überaus angespannt als hätten sie es mit
einem unglaublich gefährlichen Gegner zu tun und nicht mit einem Jungen von erst fünfzehn
Jahren.
Hinter ihm kam Leif aus dem Zelt und stellte sich mit seiner eigenen Waffe neben seinen
Freund.
Sie trugen zur Verblüffung der beiden Zuschauer ihre vollen Rüstungen, als hätten sie nur auf
den Angriff gewartet und auch Leifs Gesicht ließ den Schrecken vermissen, der eigentlich bei
diesem überraschenden Überfall darauf hätte geschrieben stehen müssen. Stattdessen hatte er
einen grimmigen, konzentrierten Ausdruck aufgesetzt und kleine Blitze zuckten gefährlich um
seine freie Hand, bereit jeden, der ihnen zu nahe kam, sofort niederzustrecken.
Dann begann der Kampf.
Zwei der Angreifer stürmten auf Jolf zu, während die verbliebene Gestalt sich mit Leif
auseinandersetzte und seinem eilig entgegengeschleuderten Blitz durch einen katzenhaften
Sprung auswich.
Der Angreifer rollte sich in einer geschmeidigen Bewegung vom Boden ab und kam direkt
vor dem Jungen wieder auf die Füße, wo er sofort mit dem Schwert nach ihm stach. Doch
Leif hatte ein magisches Schild hochgezogen, wodurch der Angriff wirkungslos an der
Barriere abprallte.
Der unerwartete Widerstand ließ seinen Gegner überrascht zurücktaumeln. Dann setzte der
junge Magier mit einem neuen Blitz nach und ein widerlicher Geruch nach verbranntem
Fleisch, sowie ein gequälter Todesschrei erfüllten daraufhin die Luft.
In der Zwischenzeit kämpfte Jolf wie in Trance mit seinen beiden Gegnern.
Sie hätten dem Jungen eigentlich haushoch überlegen sein müssen, doch die verblüfften
Zuschauer sahen, wie er jeden ihrer Hiebe auf unnatürlich geschickte Art abwehrte, als wüsste
er bereits im Voraus wo ihre Bewegungen hingehen würden. Selbst ihre ungewöhnliche Art,
die dünnen Schwerter zu führen, stellte für Jolf kein Problem dar.
Die meisterhaften Meuchler hatten Schwierigkeiten, seine Verteidigung zu durchbrechen und
wirkten darüber ehrlich entsetzt. Innerhalb kürzester Zeit waren sie es, die sich nun in
Bedrängnis sahen. Jolf bedeckte in der nächsten Sekunde seine Augen mit dem Schwertarm,
noch bevor einer seiner verzweifelter werdenden Gegner ihm ein unbekanntes Pulver ins
Gesicht schleuderte. Offensichtlich hatte Jolf auch das bereits kommen sehen.
Der Angreifer stutzte für den Bruchteil eines Wimpernschlages darüber und bezahlte dieses
Zögern mit seinem Leben, denn Jolf erkannte die Chance und stach ihm in die kurzzeitig
ungeschützte Brust. Jetzt war nur noch ein Gegner übrig.
Sie sahen anhand seiner geweiteten Augen, dass er sich gerade überlegte, ob er weiterkämpfen
oder sein Heil lieber in der Flucht suchen sollte.
Er entschied sich für Letzteres, doch Jolf hatte auch dies bereits kommen sehen und
schleuderte ihm mit beiden Händen sein Schwert entgegen, noch während der Angreifer sich
umwandte, wodurch es sich direkt in seinen ungeschützten Rücken grub. Er ging zu Boden
und zog sich noch einige Meter kriechend vorwärts bis Jolf zu ihm trat und sein Schwert mit
einem Ruck wieder an sich nahm, dann hauchte er sein Leben aus.
Als alle Gegner bezwungen und die Gefahr gebannt war, endete der Zauber und die beiden
Jungen saßen wieder am Lagerfeuer, wo sie die vertrauten Geräusche ihrer Begleiter hörten.
„Was zum Henker war das gerade?“, fragte Jolf völlig entgeistert und sah sich schnell um, als
müsse er sich davon überzeugen, dass alle noch am Leben waren.
Erleichtert sah er seine Mutter weiterhin Befehle geben und das Lager organisieren.
„Ich würde sagen, das war eine Vision kommender Ereignisse“, vermutete Leif sofort und
starrte auf Jolfs Waffe.
„Du meinst, das wird wirklich passieren? Aber wie kann das sein?“ Sein Freund klang
erschüttert und brauchte etwas länger um seinem Blick und dem Gedankengang zu folgen, der
sich daraus ergab.
„Willst du sagen, das Schwert lässt uns diese Dinge sehen?“ Er hatte für gewöhnlich nicht viel
mit Magie am Hut und konnte es daher nicht ganz so einfach begreifen.
Leif dachte noch einmal über das Gesehene nach, bevor er ihm antwortete.
„Nein, nur dich. Du bist sein Träger. Und ich glaube, es hat dich in dem Kampf auch geführt
oder die Bewegungen deines Gegners vorhersehen lassen.“
Er verzog leicht das Gesicht.
„Scheint als wüssten wir damit jetzt, was deine neue Waffe kann.“
Jolf starrte nun fassungslos auf das Schwert, bevor er schaudernd antwortete.
„Eine Gabe vom Fürsten des Wissens, fürwahr.“ Er sprang auf diese Erkenntnis hin auf.
„Dann müssen wir meine Mutter warnen und das verhindern!“
Leif hielt ihn am Arm zurück.
„Und wie willst du ihr erklären, woher du von dem Angriff weißt?“
Er stutzte und ließ sofort den Arm wieder los. Wenn sie das für sich behielten, würde sich die
Vision ganz sicher bewahrheiten, denn sie hatten eindeutig davon gewusst und in dem Zelt
gerüstet auf den Angriff gewartet, ohne die anderen zu warnen. Doch er konnte sich eigentlich
nicht ganz vorstellen, wieso sie nicht wenigstens versucht hatten, etwas zu unternehmen.
Er sah nun Jolf hinterher, der zu seiner Mutter lief und sich dort aufgeregt mit ihr unterhielt.
Kurz darauf kam er mit einem unzufriedenen Gesichtsausdruck zurück.
„Sie glaubt mir nicht und meint, ich soll die anderen mit meinem unguten Gefühl nicht
verunsichern, die Krieger sind schon angespannt genug. Von den vier Attentätern konnte ich
ihr schlecht etwas sagen, ohne dass sie mich für komplett verrückt gehalten hätte.“
Dennoch ließ die Jarl nach einiger Bedenkzeit die nähere Umgebung des Lagers nach Spuren
absuchen. Sie war schließlich eine verantwortungsvolle Anführerin und wollte damit auch
ihre Leute beruhigen, denen ihr lauter Disput mit ihrem Sohn nicht entgangen war, doch
natürlich fanden sie nichts, dazu waren diese gefährlichen Attentäter viel zu gut.
Leif hätte zu gerne gewusst, wer sie geschickt hatte.
„Offenbar haben wir die anderen in der Vision doch bereits gewarnt, nur war das vollkommen
sinnlos“, überlegte Jolf niedergeschlagen und wusste nicht, was sie sonst tun konnten.
Leif gab ihm insgeheim recht und fand, eine solche Voraussicht war auf seltsame Weise
verwirrend und verursachte eine Menge Kopfschmerzen bei dem Versuch, Wege zu finden,
um die schreckliche Vision nicht Wirklichkeit werden zu lassen.
„Wir dürfen keinesfalls in dem Zelt auf den Angriff warten, sondern müssen vorher etwas
tun“, überlegte Jolf schließlich laut und sah seinen klugen Freund hilfesuchend an.
„Ich habe das Schwert und du deine Magie. Wir haben gesehen, dass wir damit gegen sie
bestehen können. Wir müssen meine Mutter retten!“
Leif gefiel die Vorstellung nicht, dass sein Freund sich so einfach auf das unheimliche
Schwert verließ und überlegte, ob diese Gabe wohl auch einen Haken hatte, schließlich kam
sie von Herma Mora.
Trotzdem nickte er. Er wollte genauso wenig, dass der Jarl oder den anderen etwas passierte.
„Vielleicht reicht es auch schon, einfach die anderen zu wecken, indem wir im entscheidenden
Moment vorher Alarm schlagen. Lass mich nachdenken.“
Sie hatten einen unschätzbaren Vorteil dadurch, dass sie wussten, wo die Angreifer zuerst
zuschlagen würden. Ihm kam eine Idee.


„Wie war der heutige Unterricht?“, fragte der Skalde sie in ihrem fest eingespielten Ritual der
letzten Jahre, während Mira von ihm ein Übungsschwert gereicht bekam.
Sie trafen sich im unterirdischen Bereich des Tempels, in dem es die Unterkünfte und eine
große Übungshalle gab. Unterschiedliche Geräte und Waffen steckten ordentlich aufgereiht in
den Wandhaltern.
Mittlerweile verstand sie, die meisten der Waffen zu führen, auch wenn sie die Magie und das
Schwert bevorzugte.
„Wir haben heute unsere Expedition nach Saarthal besprochen“, erinnerte sie ihn an den
bevorstehenden Ausflug und hoffte, er würde keinen Grund finden, sie nicht mitgehen zu
lassen. Er hatte schon öfter gezeigt, wie wenig er den Gedanken zu mögen schien, dass sie
außerhalb von Winterfeste unterwegs war, obwohl ihr in Begleitung ihrer Lehrer dort wohl
kaum etwas passieren konnte.
Zu ihrer Erleichterung brummte der Nord auf ihre Worte hin nur und begann sie mit dem
Schwert anzugreifen. Sie wich dem Hieb tänzelnd aus.
Über diese Einstellung wunderte sie sich ein wenig. Selbst wenn er ihren Eltern gegenüber
verpflichtet war, auf sie acht zu geben, gab es keinen plausiblen Grund für seine Abneigung
dagegen, dass sie außerhalb Winterfestes unterwegs war.
Zum Glück lag die Grabungsstätte nicht weit entfernt und war den Magiern und auch der Jarl
derart wichtig, dass sogar ihr Mentor keinen erklärbaren Grund vorbringen konnte, sie nicht
mitgehen zu lassen. Ihre Sturmmagie war für die Ausgrabung von enormem Wert.
Er trieb sie mit seinen Schwerthieben jetzt immer mehr in die Enge, als ließ er seinen Zorn
darüber in den Kampf mit einfließen.
Sie verstand seinen Ärger jedoch nicht. Soweit sie von ihren anderen Lehrmeistern und den
Bewohnern Winterfestes gehört hatte, war es schließlich ihm zu verdanken gewesen, die erste
Siedlung ihres Volkes auf Himmelsrand wiederentdeckt zu haben. Er sprach nur nie darüber,
wie es überhaupt dazu gekommen war und sie hatte fast den Eindruck, als bereute er diesen
einzigartigen Fund, obwohl dieser ihm unter den Gelehrten und auch der Jarl großen Respekt
eingebracht hatte. Ihr Jarltum hatte dadurch über Nacht enorm an Bedeutung gewonnen und
man sah es nun als eine heilige Pflicht an, die untergegangene Stadt vollständig wieder zu
entdecken und auf den Spuren des legendären Vorfahren Ysgramor zu wandeln.
„Dieses Unterfangen der Magier ist gefährlich“, hob er wie zur Antwort auf ihren Gedanken
hin an.
„Sie können nicht abschätzen, was sie womöglich unter der Stadt finden, auch wenn sie noch
so viele Bücher gelesen haben. Die alte Stadt wurde nicht grundlos aufgegeben.“
Sie stolperte, als sie seinem nächsten Hieb auswich und rollte sich schnell zur Seite, bevor sie
ihren Schwung dazu nutzte, um elegant wieder auf die Füße zu kommen.
„Was soll denn passieren?“, fragte sie verwundert und versuchte einen Gegenangriff, den er
jedoch mit Leichtigkeit abwehrte.
„Es sind schließlich auch Kynepriester dort, die auf die Grabungsstätte und Arbeiter
aufpassen. Außerdem kann ich dank Euch mittlerweile ganz gut auf mich selbst achtgeben.“
Sie grinste ihm schelmisch zu und wusste, dass er darauf nicht mehr viel erwidern konnte.
Er hatte sie ausführlich gelehrt, wie sie den Sturm beherrschen und Feinde mit Blitzen
niederstrecken konnte. An ihrem magischen Schild fand er auch seit längerem nichts mehr zu
bemängeln und sie verstand es ebenfalls, mit einem Schwert umzugehen, für den Fall, dass
ihre Magie einmal unerwartet versagen sollte.
Er brummte etwas in seinen Bart, bevor er ihr mit einer recht fiesen Finte das Schwert aus der
Hand schlug, als wollte er den Kampf nun schnell beenden und ihr zeigen, dass sie doch noch
nicht so unbesiegbar war, wie sie dachte.
Sie starrte überrascht auf ihre leere Hand. Diesen Trick kannte sie bisher noch gar nicht,
obwohl sie geglaubt hatte, er müsste ihr mittlerweile alles gezeigt haben, was er konnte.
„Ich rede hier nicht von ein paar wilden Tieren oder umherziehenden Ork-Vagabunden.“
Mira sah, wie er das Übungsschwert wieder in den Waffenständer zurücksteckte und ein
ernstes Gesicht aufsetzte.
„Glaubt Ihr etwa, wir könnten dort unten auf lebende Falmer stoßen? Oder gar auf
Serenarth?“ Sie lachte bei dieser absurden Vorstellung.
Er hatte ihr einmal die Ballade von dem berüchtigten Zauberer der Schneeelfen vorgetragen,
der durch Ysgramors berühmten Bogen Langschuss niedergestreckt worden war, jedoch im
Angesicht seines Todes noch schnell einen Frostatronachen beschwor, mit dem er die Seelen
tauschte. Laut der Erzählung soll er seitdem Saarthal heimsuchen und das Blut von Ysgramors
Nachkommen einfordern.
„Das ist doch bloß eine Geschichte“, widersprach sie ihm kopfschüttelnd. Auch die Falmer
waren nur noch ein Schreckgespenst aus vergangenen Zeitaltern und schon lange nicht mehr
in Himmelsrand gesehen worden.
Ihr Mentor zog die Stirn kraus und sah sie durchdringend an.
„In jeder Geschichte steckt ein wahrer Kern“, belehrte er sie und hatte wieder einmal diesen
seltsamen Unterton in der Stimme, der sie vermuten ließ, dass er selbst mehr über diese
geheimnisvollen Dinge wusste, als er preisgab.
Die alte Stadt wurde nicht grundlos aufgegeben.
Seine vorherigen Worte klangen tatsächlich danach, als wüsste er schon genau, was sich unter
Saarthal befand, obwohl die Grabungen noch nicht sehr weit gekommen waren.
Ihr war schon oft aufgefallen, dass er auch solche ausgefallenen Gefahren in Liedern und
Geschichten als ganz real ansah und manchmal bei seinen Belehrungen abwesend und kühl
wirkte, als versuchte er, eine unerwünschte Erinnerung zu verdrängen. Sie war jedoch bisher
noch nicht dahinter gekommen, was er erlebt hatte, denn er sprach nie darüber.
Dann kam ihr ein anderer Gedanke und sie verstand wenigstens seinen derzeitigen Ärger.
„Ihr wart heute am Hof“, stellte sie fest und erntete ein bestätigendes Brummen. Er mochte es
nicht, von anderen Befehle entgegen zu nehmen und wurde immer etwas schlecht gelaunt,
wenn die Jarl ihn zu sich rief. Besonders, wenn dabei auch noch Vogt Aswala anwesend war
und seine giftigen Kommentare abgab.
Mira erinnerte sich noch gut an ihre Ankunft in der Stadt und wie sie der Frau und den
Höflingen dabei zum ersten Mal als seine neue Schülerin vorgestellt worden war. Jarl Hedda
war eine imposante, doch freundliche Erscheinung, während der Vogt ihr auf Anhieb
unsympathisch gewesen war. Sie wusste immer noch nicht genau, was eigentlich sein Problem
mit ihrem Mentor war, hatte jedoch den Eindruck, es musste etwas zwischen ihnen
vorgefallen sein, was schon sehr lange Zeit zurücklag.
„Es gab einen Zwischenfall an der Grenze zu Ostmarsch“, holte die Stimme ihres Mentors sie
aus ihren Überlegungen.
„Sie schickt mich nach Windhelm um die Gemüter ein wenig zu beruhigen. Es macht immer
mehr Eindruck, wenn die Göttin hinter ihrem Anliegen steht.“ Seine Stimme klang leicht
spöttisch.
Mira wurde hellhörig.
„Kann ich Euch begleiten?“, fragte sie sofort und hätte dafür sogar ihren morgigen Ausflug
nach Saarthal verschoben, wurde jedoch gleich darauf durch sein Kopfschütteln enttäuscht.
„Jetzt wo sie den Luxus von zwei Sturmfürsten in ihrer Stadt hat, möchte sie, dass zumindest
einer hier ist, falls die berüchtigten Herbststürme etwas früher als sonst vom Meer aus
heraufziehen.“
Mira brauchte einen Augenblick um seine Worte richtig zu erfassen.
„Ihr meint, ich soll in Eurer Abwesenheit die Stadt beschützen?“ In ihrer Stimme schwangen
Unglauben und Angst mit.
Mit der Zeit hatte sie verstanden, woher die ungewöhnliche Verehrung der Einwohner
Winterfestes für ihren Mentor kam. Er war es, der die Stadt mit seiner Magie beschützte,
wenn besonders heftige Stürme sie erreichten. Andernfalls hätten die aufgepeitschten Wogen,
die von Jahrhunderten in der salzigen Luft bereits porös gewordene Stadtmauer längst zum
Einsturz gebracht und dahinter eine verheerende Verwüstung angerichtet. Vor allem die
Menschen, die auf der Steilklippe lebten, vertrauten sehr auf ihren Mentor.
Es war jedoch eine Sache, von ihm zu lernen, den Sturm zu beherrschen, doch eine völlig
andere, plötzlich eine solche Verantwortung damit zu tragen. Wenn sie versagte, würden
Menschen zu Schaden kommen oder sogar sterben.
Der Gedanke behagte ihr überhaupt nicht und sie wusste nicht, ob sie das im Ernstfall konnte.
Das hatte sie noch nie ausprobieren müssen. Ihr Mentor schien ihrem Gesicht abzulesen, was
ihr gerade durch den Kopf ging.
„Du bist bereit dafür“, stellte er, ohne den geringsten Zweifel zu hegen, klar und schenkte ihr
eines seiner aufmunternden Lächeln, bevor er wiederholte, was sie bereits unzählige Male von
ihm im Unterricht zu hören bekommen hatte.
„Du darfst nur nicht gegen den Sturm ankämpfen. Lenke ihn um, das ist einfacher. Am besten
zurück aufs Meer.“
„Und wenn ich das nicht schaffe?“, fragte sie unwohl und hoffte insgeheim, dass es gar nicht
erst dazu kam. Er sah sie an, als wäre das vollkommen ausgeschlossen.
„In der Akademie kannst du zur Not auf eine große Quelle arkaner Macht zurückgreifen und
deine Kräfte verstärken. Die Magier dort haben euch allen doch schon gezeigt, wie ihr darauf
zugreifen könnt.“
Sie nickte zögerlich und erinnerte sich an die Lektionen darüber. Mittlerweile wusste sie auch,
dass diese machtvolle Quelle den Schutzzauber der Akademie mit Energie versorgte und von
den Magiern daher überaus sorgsam gehütet wurde. Außerdem konnte man mit der Quelle
seine eigene Magicka schonen, wodurch einen seine Zauber nicht erschöpften, wenn man mit
ihr verbunden war. Das war sehr wichtig für die neuen Schüler, die ihre Grenzen noch nicht
kannten, und ansonsten an einem zu fordernden Zauberspruch Schaden nehmen konnten,
wenn sie ihm noch nicht gewachsen waren. Ein Zauber brauchte schließlich Energie und
wenn es nicht genug Magicka gab, zog er einfach gnadenlos Kraft aus der Lebensenergie, bis
er seinen Bedarf gedeckt hatte. Das war gefährlich und konnte sogar zum Tod führen, vor
allem wenn man noch nicht wusste, wie man einen solchen Zauber rechtzeitig wieder
abbrechen konnte.
Mira hatte damit noch nie Probleme gehabt und von den Lehrern gehört, dass ihre
Selbstbeherrschung und Magicka-Kontrolle überaus beeindruckend waren.
Sie hatten es auf ihr vorangegangenes Training mit dem Sturmfürsten geschoben, der Recht
damit behalten hatte, dass seine Schildübungen sie zugleich die nötige Kontrolle über ihre
Magicka lehren würden.
Das versetzte sie nun in die Lage, stärkere Zauber zu wirken als ihre Mitschüler und diese
sogar länger aufrecht zu erhalten, als ihre vorführenden Lehrer, ohne eine Spur von
Erschöpfung zu zeigen. Ihr gefiel dieser Vorsprung, der anfangs für ungläubige Gesichter auf
Seiten der alten Magier gesorgt hatte und Bewunderung bei den Mitschülern hervorrief.
Sie wunderte sich ein wenig darüber, dass die anderen Schüler nicht auf dieselbe Art
unterrichtet wurden, sondern sich lieber von ihrer arkanen Quelle abhängig machten.
Dabei galt der Skalde – dem Flüstern unter den Magiern der Akademie nach – als unvorstellbar
mächtig und der Erzmagier lud ihn aufgrund seines vielseitigen, scheinbar unerschöpflichen
Wissens gerne zu einem Gedankenaustausch ein.
Wieso sie also nicht auf seine Lehrmethoden zurückgriffen, war ihr ein Rätsel.
Stattdessen schüttelte man lieber den Kopf darüber, dass er es vorzog, auf Kynes kriegerischen
Pfaden zu wandeln und nicht als vollwertiger Magier an der Akademie studieren und sein
Wissen mehren wollte.
„Vergiss nur nicht, es nach einem Gebet an Kyne aussehen zu lassen“, ermahnte er sie und
holte sie aus ihren Gedanken zurück.
„Sprich die bekannten Worte und lass sie nicht merken, dass du Magie wirkst. So wie immer.“
Mira wusste, worauf er anspielte. Sie war in den letzten Jahren schon einige Male dabei
gewesen und hatte ihm dabei zugesehen, wie er die Göttin auf eindrucksvolle Weise bat, ihre
Stadt zu beschützen und den Sturm wieder fortzuschicken.
Danach hatten die Menschen ihm zugejubelt und Lieder auf ihre Göttin gesungen. Mira
schüttelte bei der Erinnerung innerlich den Kopf. Die einfachen Leute waren ziemlich
leichtgläubig.
Dabei hatte sich über die Jahre für sie herausgestellt, dass ihr Mentor gar nicht besonders
gläubig war, auch wenn er nach außen hin immer so tat, weil es seiner Rolle entsprach.
Manchmal schien es ihr sogar, als hielte er in Wahrheit nicht viel von Kyne. Es schwang
immer eine leichte Verachtung und Verzweiflung in seinen Worten mit, wenn sie unter sich
waren. Es wirkte für sie, als wäre sein Glaube durch irgendetwas einmal schwer auf die Probe
gestellt worden und hätte sich bis heute nie ganz davon erholt.
Ein weiteres dieser geheimnisvollen Dinge, über die er nie sprach.
Ihn umgab eine Aura des Rätselhaften und Widersprüchlichen, die sie immer stärker
wahrnahm, je länger sie bei ihm war.
In ihrer Neugier war ihr sogar schon der verrückte Gedanke gekommen, einfach Vogt Aswala
unauffällig darüber auszufragen. Als einer seiner erbittertsten Gegner am Hof hielt er sich mit
Klatsch und Tratsch über ihren Mentor nicht zurück und würde auch nicht davor
zurückschrecken, ihn bei seiner Schülerin zu verleumden. Er hatte bestimmt einiges zu
erzählen, was sie sonst nie zu hören bekam, denn er war überaus gut informiert und kannte
ihn schon seit Jahrzehnten. Außerdem war er der einzige, der es tatsächlich wagte, schlecht
von ihrem ansonsten so hoch angesehenen Mentor zu sprechen.
Womöglich bot sich in der Abwesenheit ihres Lehrers eine einmalige Gelegenheit um etwas
mehr darüber zu erfahren.
Schuldbewusst steckte sie ebenfalls ihr Übungsschwert zurück in die Halterung und schämte
sich ein wenig für diese verräterische Idee.
„Wann wollt Ihr aufbrechen?“, fragte sie nun erwartungsvoll und war über seine Antwort
überrascht.
„Heute noch. Je schneller diese Sache aus der Welt geschafft ist, desto besser.“
Er sah sie durchdringend an, als wusste er genau, was jemandem in ihrem Alter dabei durch
den Kopf ging.
„Das heißt aber nicht, dass du deine Übungen und Pflichten vernachlässigen kannst.“
Daran hatte sie zwar gerade noch nicht gedacht, zog bei der Erwähnung nun aber doch einen
enttäuschten Schmollmund.
„Du wirst mit den anderen Akolythen trainieren und auch an der Tempelschule und den
Gebeten teilnehmen, sobald du von der Expedition zurück bist. Ich habe Meister Yorwick
gebeten, sich um deinen Unterricht zu kümmern.“
Immerhin ließ er sie noch nach Saarthal gehen. Das hellte ihre Stimmung wieder ein wenig
auf und sie nickte zur Zustimmung heftig, auch wenn Meister Yorwick für ihren Geschmack
ein wenig zu fromm war und die Worte der Göttin viel zu oft zitierte. Das war besonders
anstrengend, wenn man eigentlich nur eine klare Antwort von ihm haben wollte.
Immerhin musste sie nicht im Tempel übernachten und hätte das große Haus eine Weile für
sich allein. Manchmal hatte sie den Eindruck, als hätte ihr Mentor das absichtlich so
eingefädelt, damit sie nicht den ganzen Tag den Einflüssen des Tempels ausgesetzt war.
Dadurch sah sich darin bestätigt, dass er ein tieferliegendes Problem mit Kyne haben musste.
Er hätte schließlich auch einfach mit den anderen Priestern im Tempel leben können, doch er
ging anscheinend lieber auf Abstand, genau wie zu den Magiern.
„Nun, dann lass uns nach Hause gehen und beide für unsere Reise packen“, schlug er vor.
Gemeinsam verließen sie den Tempel und gingen heim, wobei Mira die respektvollen Grüße
der Passanten schon in gewohnter Weise mit dem selben huldvollen Nicken erwiderte, wie der
Skalde.
Ihr Haus besaß zwei Stockwerke und einen kleinen Vorgarten, der von einer hüfthohen
Steinmauer umgeben war. Abgesehen von einem Apfelbaum und einem kleinen Kräuterbeet,
war er jedoch nicht weiter bepflanzt. Ihre beiden Pferde standen seelenruhig in ihrem kleinen,
hölzernen Unterstand und schauten gelegentlich von ihrer Tränke auf. Sie waren den Trubel
der Stadt gewohnt und beachteten die Passanten vor ihrer Nase kaum. Als ihre beiden Reiter
erschienen, sahen sie jedoch sofort interessiert auf und schienen sich über ihre Rückkehr zu
freuen.
Mira strich liebevoll über den Hals ihres Tieres, das sie immer noch jedes Mal an ihr Dorf
erinnerte. Dann ging sie hinein und hoch in ihr Zimmer, wo sie das Nötigste
zusammenpackte. Viel brauchte sie für diesen Tagesausflug nicht. Ein Notizbuch und einen
Stift, sowie das kleine Nachschlagewerk für die Schüler der Akademie, mit den gängigsten
Zaubern.
Sie überlegte mit leichter Belustigung, ob sie vielleicht doch verzauberte Unterwäsche
einpacken sollte, ließ das aber dann bleiben. Wichtiger war etwas Proviant.
Sie schnappte sich den Rucksack und lief nach unten, in den Keller. Dort ließ sie aus der
Speisekammer einen Wasserschlauch, zwei Äpfel, sowie etwas gebratenes Fleisch, welches in
Papier eingewickelt war, darin verschwinden.
Auf der Grabungsstätte gibt es sicherlich auch etwas zu Essen für die Arbeiter, überlegte sie,
und war mit dem Fliegengewicht ihres Rucksackes recht zufrieden.
Der Skalde hingegen packte wesentlich mehr Proviant ein als er schließlich dazu kam.
Sie half ihm dabei, das Pferd zu satteln und alle Sachen zu verstauen, während er noch einmal
im Haus verschwand. Sie befestigte einen zweiten Rucksack mit seinen Sachen, sowie eine
Schlafmatte aus Schilf und eine Decke an dem vorgesehenen Platz.
Als ihr Mentor wieder aus dem Haus kam, hatte er ein kleines Buch dabei, das er Mira in die Hand drückte.
Während sie ungläubig den Titel studierte, saß er auf und gab ihr noch eine knappe Erklärung
zu dem Buch.
„Solange ich weg bin, kannst du dich schon einmal mit diesem theoretischen Werk über
unser nächstes Unterrichtsthema befassen.“
Mira sah weiterhin ungläubig auf das Buch und bekam fast nicht mehr mit, wie er sich
verabschiedete und scherzhaft meinte, dass sie sich ja gut benehmen sollte.
Sie sah ihm sprachlos hinterher bis er in der Menge verschwunden war und dann voller
Vorfreude wieder auf das Buch. Ihr Herz schlug sofort höher. Dieses Thema war ein lange
gehegter Herzenswunsch von ihr, seit sie das erste Mal in ihren Träumen nach Apocrypha
gereist war. Doch davon konnte ihr Lehrer eigentlich nichts wissen, da sie ihm nie davon
erzählt hatte.
An der Akademie wurde dieses Thema leider auch nur kurz angeschnitten, um auf die vielen
Gefahren dieser Art des Reisens hinzuweisen und sie hatte sich schon oft gefragt, ob sie
womöglich nach Apocrypha gelangen konnte, ohne auf die zufälligen Träume angewiesen zu
sein, auf deren Kommen sie keinen Einfluss hatte.
Sie hatte im Arcaneum bereits versucht, an bekannte Werke zu dem Thema heranzukommen,
wie zum Beispiel Die Pforten ins Reich des Vergessens, doch das wurde als zu gefährlich
unter Verschluss gehalten und war nur wenigen Meistern zugänglich. Man verlor sich schnell
in den daedrischen Reichen und fand nie mehr zurück.
Sie sah erneut auf das Buch und ein begeisterter Ausdruck huschte über ihr Gesicht.
Pforten und Wege der Aurbis. Sie wusste, die Aurbis bezeichnete das gesamte Gefüge ihres
Universums. Dazu gehörten Aetherius, sowie Mundus mit seinen zahlreichen Welten und
auch das Reich des Vergessens mit seinen vielen unterschiedlichen Ebenen.
Sofort spürte sie ein Hochgefühl und Abenteuerlust bei dem Gedanken an all diese fremden
Orte.
Das Buch war eine allgemeine Einführung in das Portalreisen vom legendären Telvanni-Zauberer Divayth Fyr. Er war der einzige bekannte Magier, der jemals die Reiche des Vergessens bereist hatte und wieder zurückgekehrt war.
Sie fragte sich kurz, woher ihr Mentor dieses Buch hatte. Es musste ziemlich selten sein, da
sie den Titel bisher noch nicht einmal im gut ausgestatteten Arcaneum gesehen hatte.
Mira blätterte jetzt neugierig auf die erste Seite und starrte verblüfft auf die persönliche
Widmung, die der Verfasser des Werkes an den reisenden Barden und verwandten Geist
gerichtet hatte. Kannte ihr Mentor den großen Gelehrten etwa? Für einen Moment war sie sprachlos.
Sie wusste, er war in seiner Jugend sehr viel gereist, doch eine Begegnung mit Divayth Fyr
hatte er bisher noch nie erwähnt und es wäre ihr auch niemals in den Sinn gekommen, dass er
die Wertschätzung dieses berühmten Elfen besaß.
Sie blinzelte und fragte sich wieder einmal, wie viele Geheimnisse er wohl noch hatte.
Dann überwog ihre Neugier diesen Gedanken.
Vielleicht stand in dem Buch auch etwas über die Reise des Dunkelelfen in die Reiche des
Vergessens. Das würde ihr sehr weiterhelfen.
Sie lief sofort ins Haus und begann aufgeregt mit dem Lesen.


„Was tust du da?“ Jolf sah ihm verständnislos dabei zu, wie er am südlichen Zugang ihres
Lagers mit der rechten Hand verstohlen Gesten in die Luft zeichnete, wenn keiner zu ihnen
herübersah.
Der Junge konnte das magische Zeichen nicht sehen, das sich dadurch auf den Boden übertrug
und dort mit roten Linien eine große Glyphe beschwor.
„Das ist eine Feuerrune“, erklärte er, obwohl sein Freund damit wenig anfangen konnte.
„Wenn der erste Attentäter dort hineintritt, sollte das ganze Lager wach werden und wir haben
einen Gegner weniger.“
Leif hoffte nur, alles richtig zu machen. Er kannte diesen Zauber bisher lediglich aus der
Theorie.
Zum Abschluss überprüfte er noch einmal sein Werk, doch die Rune schien ihm gut gelungen
zu sein. Er hatte sie ein Stück vom Weg entfernt in jener Richtung angebracht, aus der ihr
erster Feind kommen würde, damit die Wache nicht versehentlich hineinlaufen und sie zu früh
auslösen konnte.
Jetzt hieß es warten. Sie gingen ins Zelt.
Leif sprach ein stilles Gebet zu Kyne und bat um ihren Beistand, was er seit ihrem
schrecklichen Fund in der alten Ruine und dem Handel mit Herma Mora nicht mehr getan
hatte.
Er fühlte sich von ihr allein gelassen und fragte sich mittlerweile, wieso sie es einfach zuließ,
dass einer ihrer ergebenen Streiter dem Widersacher in die Falle ging.
Seine Gedanken drehten sich für einige Zeit um diese quälende Frage, bis ihm in der
vertrauten Einsicht des Gebets wieder hoffnungsvollere Gedanken kamen.
War sie womöglich doch für ihn da gewesen und hatte ihnen den ungewöhnlich starken Sturm
geschickt, damit sie umkehrten und die Ruine gar nicht erst betraten? Hatte er ihr Wirken und
die Warnung nur nicht erkannt und seine Freunde davon abhalten sollen, dort Schutz zu
suchen?
Er wusste es nicht zu sagen und überlegte nun, ob sie womöglich sogar einen ganz eigenen
Plan verfolgte, der weiter ging, als er zu sehen vermochte, und sie mit dem Sturm absichtlich in
die Ruine und die Arme ihres Gegners hatte treiben wollen. Vielleicht vertraute sie darauf,
dass er einen Sieg für sie über Herma Mora errang. Das war ein tröstlicher Gedanke.
Er öffnete verblüfft die Augen und beendete sein Gebet mit einem viel zuversichtlicheren
Gefühl. Sie musste einfach einen Plan haben, auf den er vertrauen konnte. Sie würde ihn
sicher nicht Herma Mora überlassen.
Er sah hinüber zu Jolf, der genauso entschlossen dreinblickend sein daedrisches Schwert mit
einem Stein schärfte und nur die Rettung seiner Mutter im Sinn hatte.
Es konnte eigentlich nicht mehr lange dauern, bis es vollständig dunkel war, doch das
nervenzehrende Warten kam ihnen vor wie eine Ewigkeit.
Dann hörten sie eine erlösende, ohrenbetäubende Explosion, die sie sofort aus dem Zelt
stürmen ließ.
Innerhalb eines Augenblickes war das ganze Lager auf den Beinen. Der erste Gedanke der
Wachen galt allerdings dem Feuer, das es zu löschen galt, bis sie erkannten, dass der
brennende, schreiende Mann keiner von ihnen war.
Leif sah die drei verbliebenen Attentäter, die von der Explosion ebenfalls überrascht worden
waren und kurz inne hielten, um die Lage neu zu bewerten. Jetzt hatte man sie ebenfalls
entdeckt und erste Alarmrufe gellten durch die Nacht.
Die Attentäter zogen ihre Schwerter und schienen noch nicht bereit, ihren misslungenen
Angriffsversuch abzubrechen.
Sie sahen hinüber zu den beiden Jungen und kämpften sich mit erschreckender Leichtigkeit an
den nahestehenden Wachen vorbei und bis zu ihnen vor, wo sie sich zu einer Einheit
zusammenschlossen. Sofort war Leif wieder davon überzeugt, dass man es eigentlich auf sie
abgesehen hatte.
Einer der Attentäter hielt seinen Gefährten nun den Rücken frei und beschäftigte die
hinzugekommenen Wachen, während die anderen beiden sich den Jungen zuwandten.
Der angehende Magier sah, wie das Schwert seines Freundes auf die drohende Gefahr
reagierte und Jolf in seinen hellsichtigen Bann zog. Er wehrte die ersten Angriffe seiner
Gegner mit mehr Geschick und Können ab, als sein Alter es ihm an Erfahrung eigentlich
erlaubte.
Leif entschloss sich dazu, ihm den Kampf zu überlassen und sich den dritten Angreifer
vorzunehmen, der nun auch mit der Jarl focht, die ihren Sohn retten wollte.
Der Attentäter kämpfte dabei auf meisterliche Art mit zwei Schwertern zugleich und hatte
keine Schwierigkeiten, seine Feinde auf Distanz zu halten.
Das Geräusch ihrer aufeinanderprallenden Klingen erfüllte die Nacht mit einem schauerlichen
Klang.
Leif war beeindruckt von seinem Können und überlegte, ob es ihm gelingen würde, ihn
trotzdem irgendwie gefangen zu nehmen.
Er wollte unbedingt wissen, wer sie geschickt hatte und wieso sie es auf ihn und Jolf
abgesehen hatten. Schnell ging er seine Möglichkeiten durch.
Mit einem Blitz hätte er ihn vermutlich nur getötet und er musste auch die Wachen davon
abhalten, den Angreifer mit ihrer bloßen Übermacht letzten Endes doch noch zu erledigen.
Ein Windstoß, der sie von den Füßen fegt, kam ihm nun die geeignete Idee.
Leif griff im nächsten Augenblick bereits nach seiner Magie und verschmolz auf gewohnte
Weise mit seiner Umgebung. Er nahm den Wind jetzt als spürbare Kraft wahr, die er sich
unterwerfen und lenken konnte.
Er konzentrierte sich mit aller Willensstärke darauf und spürte sofort die frische Brise, die
aufkam, und mit unerwarteter Stärke durch das Lager fegte.
Über ihm waren dunkle Wolken aufgezogen, in denen unzählige Blitze zuckten, die er gar
nicht hatte beschwören wollen.
Er bemerkte zu spät, dass die Aufregung des Kampfes, seine Sorge um Jolf und die anderen,
sowie seine wachsenden Zweifel an Kyne und die unterschwellige Furcht vor dem, was
Herma Mora mit ihnen vorhatte, in den Zauber mit hinein flossen.
Die Energien, die er dadurch zusammenzog, waren gewaltig und er hatte Schwierigkeiten sie
überhaupt unter seiner Kontrolle zu halten.
Leif spürte, wie dieser Zauber seine Magicka in einer erschreckenden Geschwindigkeit
aufzehrte und erkannte, wie gefährlich das war.
Ein Magier darf sich keinesfalls seinen Gefühlen hingeben, wenn er einen Zauber wirkt, er
könnte sonst unkontrollierbare Ausmaße annehmen
, hörte er die warnenden Worte von
Meister Aswala, doch sie halfen ihm in diesem Moment nicht, zu verhindern, dass der Zauber
immer größer und fordernder wurde und als Ergebnis zu einem verheerenden Orkan anwuchs.
Dieser entfesselten Urgewalt seinen Willen aufzuzwingen, war eine sehr gefährliche Sache, an
die sich nur wenige der machtvollsten Magier überhaupt heranwagten. Es kostete viel mehr
Energie, als die meisten geben konnten, darum beschränkte man sich auf das Heraufbeschwören leichter Prisen, mit denen man ein Schiff schneller zum Ziel bringen oder
einen Gegner umwerfen konnte.
Die Erde um sie herum wirbelte auf und erschwerte als dunkler Schleier die Sicht. Der gerade
noch tobende Kampf kam mit einem Mal einfach zum Stillstand als sich alle vor einem Hagel
aus Steinen und Ästen ducken mussten, die als tödliche Geschosse wild durch das Lager
flogen.
Die kleineren Zelte wurden einfach aus ihren Verankerungen gerissen und flatterten wie
riesige weiße Vögel über ihre Köpfe hinweg. In einen nahestehenden Baum schlug laut
krachend ein Blitz ein und ließ alle Anwesenden gleichsam zusammenzucken.
Leif bemerkte voller Schrecken, dass er keine Kontrolle mehr über den Sturm hatte, der ihn
nun bereits erschöpfte und für seine weitere Existenz begann, Kraft aus seiner Lebensenergie
zu ziehen. Ihm blieb nicht viel Zeit um den Zauber abzubrechen, doch so sehr er es auch
versuchte, es gelang ihm nicht, die übermächtige Verbindung zu trennen, die mit aller
Unnachgiebigkeit mehr Energie von ihm forderte, um sich selbst aufrecht zu erhalten.
Aus den Augenwinkeln sah er, wie Jolf in seinem unheiligen Bann gefangen, als einziger
weiterhin aufrecht stand und den umherfliegenden Geschossen vorausschauend auswich,
während er seine beiden überraschten Gegner fast beiläufig mit dem Schwert fällte. Es war
ein unglaublicher Anblick, ihn so zu sehen und Leif hörte trotz des tosenden Lärms einige
ehrfürchtige Ausrufe hinter sich.
Er sah zu dem letzten verbliebenen Attentäter hinüber. Als hätte er dem Sturm damit ein Ziel
gegeben, schlug ein gewaltiger Blitz aus dem Himmel in den Angreifer ein. Ein Krater aus
verbrannter Erde bildete sich um die Leiche herum und es roch unangenehm nach verkohltem
Fleisch.
Leif spürte, wie viel Energie ihn der Blitz kostete und wurde fast besinnungslos, während der
Sturm davon ungerührt weiter an seiner Lebensenergie zehrte. Er durfte jetzt keinesfalls
ohnmächtig werden.
Sein ermüdender Blick glitt panisch weiter durch das Lager, bis er eine ungewöhnlich starke
Kraft bemerkte, die er von dort wahrnahm, wo einige Augenblicke zuvor noch sein Zelt
gestanden hatte. Eine fremdartige Quelle von arkaner Energie zog seine Sinne an, wie ein
rettendes Leuchtfeuer.
Der junge Magier wusste genau, wo sie ihren schrecklichen Ursprung hatte, doch er überlegte
nicht lange und griff danach, denn die Alternative war der sichere Tod.
Auf das überwältigende Ergebnis war er allerdings nicht vorbereitet.
Pure Macht durchströmte ihn, kaum, dass er sie mit seinem Geist berührte und sich mit ihr
verband. Die Quelle nährte sofort in unerschöpflicher Weise für ihn den Sturm, wodurch er
nun nicht mehr Gefahr lief, selbst ausgezehrt zu werden.
Er stieß einen erleichterten Seufzer aus und konzentrierte sich darauf, seine aufgewühlten
Gefühle und unterschwelligen Ängste mit einer geistigen Übung seines Meisters wieder in
den Griff zu bekommen, während der mächtige Orkan weiter um sie herum tobte.
Langsam gewann er dadurch die Kontrolle über den Sturm zurück.
Er erhob sich und streckte die Hände in den Himmel, um die Energien besser zu lenken.
Ein halbes Dutzend Augenpaare sahen ihm staunend dabei zu, wie er den Sturm mit einem
einzigen Wort zur Ordnung rief und Kyne, einer Eingebung folgend, anschließend für die
Unterstützung dankte.
Der Orkan legte sich so schnell wie er gekommen war und eine ehrfürchtige Stille senkte sich
minutenlang über das verwüstete Lager.
Die Überlebenden erhoben sich sichtlich angeschlagen und schauten die beiden Jungen
einfach nur sprachlos an: Den jungen Kynepriester, der einen gewaltigen Sturm beschworen hatte. Und den Sohn der Jarl, der sie zuvor prophetisch vor diesem Angriff hatte warnen wollen und auf eine Art und Weise kämpfte, als wäre Shor selbst in ihn gefahren, um ihnen beizustehen.
Sie hatten einige Verluste zu beklagen, doch es hätte weitaus schlimmer kommen können
ohne sie, das wussten alle und glaubten, darin sofort den Beistand ihrer Götter zu erkennen.
Leif sah auf seine Hände und konnte selbst noch nicht ganz fassen, was für eine gewaltige
Macht er eben darin gehalten hatte.
Erst als Jolfs Mutter ihre Leute in ihrer bestimmenden Art anwies, die brauchbaren Reste des
Lagers zusammen zu suchen und die Toten zu begraben, löste sich ihre gemeinsame
Erstarrung endlich.
Unter dem ehrfürchtigen Getuschel der Wachen folgte Leif ebenfalls dem Befehl
und suchte nach seinem Rucksack. Er lag begraben unter einem Haufen Erde, doch er fand
ihn problemlos durch die arkane Energie, die von ihm ausging, und grub ihn aus.
Mit zitternden Händen öffnete er die Schnüre und starrte unwohl auf das daedrische Buch, mit
dem er noch immer verbunden zu sein schien, obwohl er den Zauber längst beendet hatte.
Er verstand nun, dass dieses Buch nicht nur unendliches Wissen barg, sondern zugleich eine
eigene Quelle arkaner Energie war, aus der er von nun an Kraft ziehen konnte.
Das Buch würde es ihm ermöglichen, gefahrlos jeden Zauber zu meistern, egal wie schwer er
sein würde und ihn in nie gekannter Stärke zu wirken, doch er wollte nicht wissen, was der
furchtbare Preis dafür wäre, denn es musste seine Macht direkt aus dem Reich des Vergessens
beziehen. Aus Herma Moras ganz eigener Ebene.
Das gefiel ihm überhaupt nicht, denn es fühlte sich an, als hätte er sich damit ungewollt nur
noch enger an den daedrischen Fürsten gebunden, als er in seiner Not nach dieser Macht
gegriffen hatte. Der Widersacher hatte etwas mit ihm vor und von langer Hand geplant, dass
er dieses Buch bekam, begriff Leif in diesem Moment erschüttert.
Für einen Augenblick starrte er hilfesuchend in den klaren Himmel, in der Hoffnung, seine
Göttin würde ihm durch ein Zeichen offenbaren, dass dies wirklich nur eine Prüfung war und
alles ein gutes Ende nehmen würde.
Doch sie blieb stumm und ließ ihn mit diesem schrecklichen Gedanken allein.


Fortsetzung folgt.

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